Pro-Palästina / Lanz / Humboldt / Jerusalem

Seit meinem letzten Text Ende des vergangenen Jahres – geschrieben unter dem Eindruck der furchtbaren Morde des 7.10. – hatte ich immer wieder den Impuls, auf Äußerungen zu reagieren, die aus der muslimischen Landschaft in Deutschland formuliert worden sind. Ich habe mich monatelang zurückgehalten, weil ich auch jenen, die ich für ihre Positionen kritisieren will, einräume, in einer gesellschaftlichen Atmosphäre zu schreiben und zu reden, die nicht dabei hilft, emotional unbeeindruckt zu bleiben und einen klaren Blick zu behalten.

Die öffentlichen Positionen treten jetzt aber mit sich wiederholenden, erkennbaren Mustern in Erscheinung, so dass ich davon überzeugt bin, dass es sich um feste Narrative in den aktuellen Debatten handelt, die ich nicht unwidersprochen lassen will.

Drei Details haben mich in besonderer Weise irritiert, weil ich sie in einem größeren Zusammenhang wahrnehme.

Da war zunächst der Beitrag eines bald ausscheidenden Vorsitzenden eines muslimischen Verbandes, der in der Nahost-Diskussion angesichts der vielen zivilen Opfer in Gaza beklagt, wir hätten unsere Aufrichtigkeit in der Debatte verloren.

Darauf folgte eine prominente Migrationsforscherin, die die Äußerungen der Universitätsräume besetzenden, propalästinensischen Studierenden mit der Begründung verteidigt, dass gerade eine Universität für die bedingungslose Ermöglichung von Diskursräumen stehe, die auch und insbesondere mit kontroversen Positionen gefüllt werden müssten.

Und erst kürzlich traf ich in einer Talkshow auf einen Gast, der den Jahrestag von Solingen und die dort beim Brandanschlag getöteten Opfer in eine Reihe mit den zivilen Opfern in Gaza gestellt hat.

Es geht mir nicht um die einzelnen Personen und die detaillierte Erwiderung auf die von ihnen vorgetragenen konkreten Positionen. Es geht mir vielmehr darum, dass diese Personen diskussionswürdige Meinungen in den muslimischen Gemeinschaften widerspiegeln, verstärken oder gar selbst initiieren. Die fraglichen Positionen zeichnen ein übergeordnetes Bild von der Stimmungslage und von Denkmustern innerhalb der muslimischen Gemeinschaften in Deutschland, die wir näher beleuchten und diskutieren müssen, wenn uns die konstruktive Zukunft unserer Debatten und die unseres Zusammenlebens am Herzen liegt. Dieser Text ist ein solcher Versuch.

Aufrichtigkeit, Diskursräume, Opfer

Die oben beispielhaft ausgewählten Positionen beschreiben eine Wechselwirkung, in der sich bestimmte Meinungen in den muslimischen Gemeinschaften in Deutschland etablieren, zirkulieren und verstetigen. Insbesondere im Kontext des Nahostkonflikts und des aktuellen Krieges in Gaza treten die dabei sichtbar werdenden innermuslimischen Probleme sehr viel deutlicher in Erscheinung als es in den zurückliegenden Jahren der Fall war. Es sind im Wesentlichen diese drei Meta-Annahmen über die eigene muslimische Rolle in den in Deutschland geführten Debatten und mit Blick auf den Nahostkonflikt, die nahezu über jeder Diskussion oder Meinungsäußerung schweben:

Erstens: Opfer zu sein, dem das Unrecht immer nur widerfährt, ohne eine eigene Verantwortung für oder eine eigene Wirksamkeit im Hinblick auf die beklagten Zustände zu haben.

Zweitens: Diese Situation in einer deutschen Gesellschaft diskutieren zu müssen, die unaufrichtig ist, wobei die eigene, zuweilen auch extreme Position immer nur Ausdruck der schonungslosen Aufrichtigkeit ist.

Drittens: Diese Diskussionen letztlich gar nicht offen führen zu können, weil die eigenen Positionen nicht zugelassen, sozial geächtet und dämonisiert werden.

Diese übergeordneten Annahmen haben zur Folge, dass z.B. die zivilen Opfer in Gaza mit den Opfern des rassistischen Brandanschlages in Solingen gleichgesetzt werden und es beklagt wird, dass wir nichts aus den rassistischen Brandanschlägen in Deutschland gelernt haben, wenn wir nicht bedingungslos das Ende des Krieges in Gaza fordern.

Dem muss ich entschieden widersprechen.

Migration ist nicht Krieg

Die türkischen Einwanderer und deren Nachkommen, die in Mölln und Solingen getötet wurden, waren keine Opfer eines Krieges, den sie gegen die deutsche Gesellschaft geführt haben. Die türkische Community in Deutschland hegt keine Vernichtungswünsche gegen dieses Land. Sie wartet nicht darauf, dass türkische Täter ihre deutschen Nachbarn überfallen, um sich dann über das Blutvergießen und die Erniedrigung der deutschen Opfer zu freuen. Die türkische Community in Deutschland hat keine politischen Führer, die immer und immer wieder Mordanschläge auf ihre deutschen Nachbarn verüben wollen, um die Existenz dieses Landes zu beenden. Die Opfer in Mölln und Solingen hätten nicht anders handeln können, um den Anschlag auf ihre Familien zu verhindern.

Ich rechtfertige damit nicht die vielen zivilen Opfer in Gaza. Ihren Tod zu bedauern und zu betrauern und das Ende dieses Krieges zu fordern, ist ein Gebot unserer Menschlichkeit. Dieser Maßstab ist doch auch die Grundlage der anklagenden Vorwürfe gegen die israelische Regierung. In Anlehnung an die Diskussion, ob von der israelischen Regierung eine andere Form der Kriegsführung oder eine gänzliche Einstellung aller Kriegshandlungen zu fordern ist, stellt sich auch im Kontext der innermuslimischen Debatten indes die Frage, warum diese Forderung nicht mit der gleichen Vehemenz an die Palästinenser und deren politische Führung gerichtet wird.

Es gäbe diesen Krieg nicht, wenn nicht auch die Hamas ihn führen wollen würde. Wiederholt hat sie bekräftigt, die Anschläge vom 7.10. als legitimen Widerstand zu verstehen und diesen ungeachtet der eigenen zivilen Verluste immer wieder wiederholen zu wollen. Diese billigende Inkaufnahme massiver ziviler Verluste in der eigenen Bevölkerung ist keine rassistische Unterstellung. Das ist die offen kommunizierte Politik der Hamas. Und es ist die Begleitmusik der propalästinensischen Unterstützerszene hier in Deutschland.

Der propalästinensische Krieg

Wenn der 7.10. ein Akt des legitimen Widerstandes gegen einen Apartheidstaat sein soll, wenn er ein Akt des antikolonialen Widerstandes sein soll und wenn er geführt werden soll, bis die „zionistische Entität“ vernichtet ist, warum sollte dann die Hamas mit diesem Krieg aufhören?

Und wenn die „Kriegsführung“ der palästinensischen Seite als legitim und gerecht betrachtet wird und „by any means necessary“ geführt werden soll, warum wird dann die Forderung, den Krieg zu beenden überhaupt als propalästinensische Position verstanden? In der behaupteten moralischen Logik muss die Hamas diesen Krieg doch fortsetzen, bis ihre Ziele erreicht sind – die Fortsetzung und nicht die Beendigung des Krieges wäre in diesem Verständnis propalästinensisch, also die Verfolgung der palästinensischen Interessen. Hören wir deshalb immer nur den Appell an Israel, diesen Krieg zu beenden?

Aber wie kann man es unterlassen, die Forderungen nach Beendigung des Krieges ebenso nachdrücklich an die Hamas und die palästinensische Bevölkerung zu richten und dieses einseitige Schweigen auch noch als propalästinensische Solidarität begreifen, wenn doch die Umstände dieses Konflikts und die Asymmetrie dieses Krieges nichts anderes erwarten lassen als massive zivile Opfer in Gaza?

Wo bleibt da die Aufrichtigkeit, die der Chef des sogenannten Zentralrats der Muslime in pathetischen Zeitungsartikeln einfordert und ihren Verlust nur als Vorwurf an die nicht muslimische deutsche Gesellschaft und Regierung adressiert? Wenn man bis zum heutigen Tag nicht Willens ist, die Hamas als Terrororganisation zu bezeichnen, dann stützt man die Erzählung, bei der Hamas handele es sich um Freiheitskämpfer, die für die Befreiung ihres Volkes kämpfen. Warum soll dieser „Befreiungskampf“ dann eingestellt werden? Wer aufrichtig Mitleid mit den Palästinensern empfindet, muss anders reden.

Keine Aufrichtigkeit

Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit sind eine harte Währung. Ihre phrasenhafte Verwendung als Worthülsen prägt aber unsere innermuslimischen Debatten im Hinblick auf den Krieg in Gaza und den Nahostkonflikt. Und nach dem 7.10. ist diese Phrasenhaftigkeit auch auf die gesamtgesellschaftlichen Debatten zu diesem Thema übergesprungen.

„Gerechte Lösung“. „Zwei-Staaten-Lösung“. Eine eigene palästinensische Staatlichkeit als zwingende Lösung für diesen Konflikt. All das wird nur noch als Floskel, als rhetorisches Blubbern im Diskurs vorgetragen und von der Moscheeteestube bis in die universitäre Migrations- und Konfliktforschung mit einem moralischen Gestus vorgetragen, das man meinen könnte, ihre Verwendung diene nur der Feststellung und Bekräftigung auf der richtigen Seite dieser Debatte und dieses Konflikts zu stehen. Aber was bedeuten sie überhaupt? Und welche Grundlage haben sie, wenn dabei zwei Dinge vollständig ausgeblendet werden: ihre fehlende inhaltliche Substanz und die Unaufrichtigkeit ihrer Verwendung?

Nachbarschaft oder „Widerstand“?

Man will propalästinensische Solidarität zeigen, ohne zu definieren, wie denn die positive Nachbarschaft eines Staates Palästina zu Israel überhaupt aussehen soll. Seit 2005 gab es im Gaza-Streifen die Möglichkeit, ohne israelische Besatzung eine eigene vorstaatliche Struktur aufzubauen. Fast 20 Jahre lang hätte die palästinensische Führung beweisen können, dass sie Willens und in der Lage ist, ein demokratisches Staatswesen, freie Wahlen, funktionierende Verwaltungsbehörden, eine unabhängige Justiz aufzubauen.

Hätte sie dies getan, wäre die Möglichkeit einer massiven finanziellen Unterstützung dieses Aufbaus durch die arabischen Nachbarn nicht nur wahrscheinlich, sondern sicher gewesen. Gaza wäre ein Beispiel dafür geworden, was auch im Westjordanland und letztlich als ein unabhängiger, souveräner Staat Palästina möglich und zu erwarten gewesen wäre.

Ein Nachbar, der glaubhaft eine politische und wirtschaftliche Partnerschaft mit Israel anzustreben beabsichtigt, hätte auch das Sicherheitsbedürfnis in der israelischen Bevölkerung adressiert.

Stattdessen hat sich die palästinensische Führung dafür entschieden, den Gaza-Streifen in ein Waffenlager zu verwandeln. Wer ein souveräner Staat werden will, ist bestrebt, die Sicherheit und den Wohlstand seiner Bevölkerung zu mehren – statt den seiner im luxuriösen Exil lebenden Führungskader. Wer ein funktionierender Staat werden will, der gräbt keine Wasserrohre aus, um Raketen daraus zu basteln, sondern baut eine von Israel unabhängige Wasserversorgung für seine Bevölkerung auf. Hat eigentlich jemals eine andere Bevölkerung eine so hohe finanzielle Pro-Kopf-Unterstützung aus dem Ausland für den Aufbau eigener staatlicher Strukturen erhalten wie der Gaza-Streifen, nur um sie im Terrorwahn zu verschleudern?

Doppelte Maßstäbe

Anzunehmen, der palästinensischen Führung sei ein solcher Aufbau, eine solche Entscheidung, das eigene Schicksal konstruktiv und friedlich zu gestalten, durch das Unrecht dieses Konflikts verwehrt und die einzige Handlungsoption der Terror des 7.10., ist nichts anderes als ein Rassismus der geringen Erwartung. Warum sollen Palästinenser, warum sollen Muslime, keine andere Antwort auf den Nahostkonflikt finden können als die der Gewalt des 7.10.? Wer dieses massenhafte Morden als einzig mögliche Handlungsoption und damit als Widerstand legitimiert, unterstellt, dass das palästinensische Volk gar nicht anders handeln kann als gewalttätig. Was soll an einer solchen Meinung über das palästinensische Volk eigentlich propalästinensisch sein?

Wie selbstverständlich sagen wir, von Israel müssen wir höhere Standards erwarten als von der Hamas. Aber warum machen wir uns keine Gedanken darüber, warum wir bei der Hamas und bei den Palästinensern geringere Standards erwarten? Wer einen eigenen Staat für sich beansprucht, von dem müssen wir mehr erwarten als den Überfall auf seine Nachbarn. Die aktuelle geringe Erwartung an die Palästinenser ist keine propalästinensische Haltung.

Völlig unabhängig von den politischen, religiösen und ideologischen Verwerfungen in Israel – ein palästinensischer Staat existiert auch – und vielleicht insbesondere – deshalb nicht, weil ihn die palästinensische Führung nicht will.

Zu der von muslimischen Stimmen eingeforderten Aufrichtigkeit gehört eben auch diese Feststellung: Die Forderung einer Zwei-Staaten-Lösung ist deshalb nicht propalästinensisch, weil die palästinensische Führung und mit ihr weite Teile der muslimischen Gemeinschaften – in Deutschland und weltweit – gar keinen palästinensischen Staat wollen, der in Nachbarschaft mit Israel existiert. Sie wollen einen palästinensischen Staat, der Israel verdrängt und ersetzt.

Vernichtungsfantasien

Wenn wir aufrichtig sind, sprechen wir aus, dass in weiten Teilen der muslimischen Gemeinschaften ein Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge nicht aus moralischen Erwägungen der Gerechtigkeit gefordert wird, sondern als demographische Waffe, mit der die Mehrheitsverhältnisse in Israel so zu Gunsten des palästinensischen Bevölkerungsanteils verändert werden sollen, dass die Existenz eines Staates Israel unmöglich wird.

Wenn wir aufrichtig sind, sprechen wir aus, dass in weiten Teilen der muslimischen Gemeinschaften der Tag herbeigesehnt wird, an dem muslimische Truppen in Jerusalem einmarschieren, die Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg befreien und danach die Juden an den Stränden Tel Avivs ins Meer treiben. Dabei wird man in muslimischen Gemeinschaften nicht selten daran erinnert, nicht von „Tel Aviv“ zu sprechen – es muss „Jaffa“ heißen: Die Idee der Vernichtung des israelischen Staates und die Rückabwicklung seiner Geschichte wird in weiten Teilen unserer muslimischen Gemeinschaften als Grundvoraussetzung für eine eigene palästinensische Staatlichkeit gedacht und in die Art und Weise, wie wir über diesen Konflikt sprechen, implementiert.

In unseren muslimischen Gemeinschaften, in denen wir hochemotional über den Vorwurf eines Völkermordes in Gaza sprechen – reden wir da auch aufrichtig über diese eliminatorischen Ansichten und Überzeugungen zum Nahostkonflikt in unseren Reihen? Reden wir über die Vernichtungsfantasien gegenüber einem Volk, dessen Propheten wir als eigenen Propheten verehren? Reden wir darüber, dass in unseren Gemeinschaften jeder Militärschlag der israelischen Armee in Gaza als schändliches Kriegsverbrechen und Nachweis der Niedertracht „des Juden“ verurteilt wird, wir aber gleichzeitig zu zigtausend Raketen der Hamas auf zivile Ziele in Israel – jede für sich ein Kriegsverbrechen – im „besten Fall“ nur schweigen, wenn wir sie denn nicht ausdrücklich feiern?

Wie aufrichtig sind wir also tatsächlich, wenn wir über den Nahostkonflikt reden?

Diskursräume

Es sind aktuell ja auch unsere akademischen Vordenker, unsere Meinungsmacher, die sich solidarisch mit Campus-Besetzungen zeigen und Erklärungen unterzeichnen, wonach sie die Protestierenden „unter keinen Bedingungen“ polizeilichen Maßnahmen ausliefern wollen. Wie sollen denn Diskursräume geschaffen und geschützt werden, wenn wir Bedingungslosigkeit im Meinungsstreit zulassen oder gar durch wortreiche Stellungnahmen einfordern?

Was ist z.B. mit der Bedingung, jüdische Studierende nicht zu bedrohen und nicht anzufeinden, wenn wir über den Nahostkonflikt streiten? Was ist mit der Bedingung, Antisemitismus nicht unter dem Vorwand, sich „antizionistisch“ äußern zu wollen, zu verharmlosen? Was ist mit der Bedingung, die Gewalt der Hamas nicht zu rechtfertigen, während die Angehörigen ihrer Opfer mitten unter uns leben? Haben wir nun gar keine Regeln des zivilisierten Umgangs mehr, wenn wir über den Nahostkonflikt reden?

Was ist z.B. mit der Bedingung, dass es auch für muslimische Personen beim Thema Israel möglich sein muss, sich gegen die weit verbreiteten problematischen Überzeugungen innerhalb der eigenen muslimischen Gemeinschaften zu positionieren und die dortigen Ansichten zu kritisieren, ohne als Verräter, als „Hausmuslim“ oder als Lügner markiert zu werden?

Es waren Wissenschaftler der Humboldt Universität, die diese „bedingungslose“ Stellungnahme zu den Campus-Besetzungen mit unterzeichnet haben. Anschließend wurde in einem Zeitungsbeitrag eloquent erläutert, dass es dabei darum gehe, Diskursräume zu schaffen und zu schützen und dass es zu den Aufgaben gerade universitärer Einrichtungen gehört, solche offenen und freien Diskurse zu ermöglichen.

Humboldt

Das ist tatsächlich sehr überzeugend. Aber es ist doch bemerkenswert, dass es ausgerechnet ein Mitarbeiter eben dieser Humboldt Universität war, der Ende letzten Jahres öffentlich Muslime, die nicht seine Ansichten zum 7.10. teilen, unter Hinweis auf ihre Person als „Hauskanaken, die das deutsche Gewissen erleichtern wollen“ markiert hat. Es handelt sich dabei um einen Wissenschaftler, der zu Radikalisierungsphänomenen forscht und dem deshalb bekannt sein muss, was die öffentliche Infragestellung der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit zur muslimischen Gemeinschaft für selbstkritische Muslime bedeuten kann.

Die direkten Vorgesetzten dieses – mittlerweile ehemaligen – Mitarbeiters schweigen bis heute zu diesem Vorfall. Und nicht nur das. Einer von ihnen war so ungehalten über die Meinung einer Gesprächsrunde mit muslimischen Teilnehmern, dass er erst kürzlich öffentlich ihr Muslimisch-Sein in Anführungszeichen setzt und ihnen vorwirft, ohne empirische Grundlage „Mythen“ über muslimische Organisationen in Deutschland zu verbreiten.

Gehört diese erneute öffentliche Infragestellung der Authentizität der muslimischen Perspektive und Erfahrung selbstkritischer Redner und damit ihre persönliche Delegitimierung im Diskurs zu der Art und Weise wie Wissenschaftler die Diskursräume schützen wollen, die sie so bedingungslos einfordern? Ist das der Ausdruck von Aufrichtigkeit, die in dieser Debatte vermisst wird?

Sind denn diese Diskursräume, die man bedingungslos schützen will, auch aus muslimischer Perspektive und für innermuslimische Debatten so belastbar, wie die propalästinensischen Unterstützer es für die eigenen Meinungen einfordern?

Belastbarkeit innermuslimischer Diskursräume

Gibt es zum Beispiel innerhalb der muslimischen Gemeinschaften tatsächlich die Bereitschaft, über herausfordernde Ansichten zum Nahostkonflikt wirklich offen und aufrichtig zu streiten, ohne einander zu delegitimieren, als Abtrünnigen zu markieren und persönlich anzugreifen und zu bedrohen?

Ich will eine solche Perspektive auf den Krieg in Gaza und den Nahostkonflikt beschreiben, von der ich mir wünsche, dass sie in Moscheegemeinden, muslimischen Verbänden, mit muslimischen und propalästinensischen Studierenden, in den so nachdrücklich beschworenen universitären Diskursräumen debattiert wird. Ich möchte überrascht sein, dass das möglich ist und dass das insbesondere von jenen ermöglicht wird, die ihre Haltung als propalästinensisch definieren und ein sofortiges Ende dieses furchtbaren Krieges fordern. Überrascht – weil ich weiß, dass ich im Folgenden eine Zumutung formuliere:

Der 7.10. war ein derart brutaler und grausamer Tiefpunkt in der Geschichte dieses Konfliktes und eine bislang in dieser Dimension beispiellose Manifestation des palästinensischen Vernichtungswillens gegen Israel und gegen ihre jüdischen Nachbarn, dass eine konventionelle Verhandlungsstrategie nicht zu einer anhaltenden Befriedung dieses Konflikts führen kann. Vor dem Hintergrund der palästinensischen Bekräftigung, dass der 7.10. immer wieder wiederholt werden wird, bis der israelische Staat vernichtet ist, kann kein Waffenstillstand, keine Friedensverhandlung wirklich Erfolg versprechen.

Dafür fehlt es schlicht an einer Vertrauensgrundlage, die die israelische Bevölkerung davon überzeugt, dass ihre palästinensischen Nachbarn, wenn sie einen eigenen Staat bekommen, diesen nicht bloß als Gelegenheit nutzen, sich so gründlich zu bewaffnen, dass ein Schlag gegen Israel ausgeführt werden kann, der den 7.10. in seiner Grausamkeit noch übertrifft.

Es braucht also eines Symbols, das so stark ist, dass die Bereitschaft der Palästinenser, zukünftig in Frieden als Nachbarn eines israelischen Staates leben zu wollen, glaubwürdig wird. Dieses Symbol kann nur dann wirklich überzeugend sein, wenn es sich an den gegenwärtigen Symbolen orientiert, die genutzt werden, um den Vernichtungswunsch gegen Israel zu bekräftigen.

Dieser weltweit in muslimischen Gemeinschaften verbreitete Wunsch, Israel zu zerstören und Jerusalem zu befreien, bedient sich eines Symbols, in welchem alle Sehnsüchte mit Blick auf diesen Konflikt kulminieren. Es ist die Befreiung des Tempelberges in Jerusalem und der dortigen Al-Aqsa-Moschee.

Die Irrationalität dieser emotionalen Aufladung auf muslimischer Seite wird auch an der Tatsache deutlich, dass viele Muslime gar nicht wissen, dass es sich bei der Al-Aqsa-Moschee nicht um den goldenen Kuppelbau mit bläulicher Fassade, also den Felsendom, handelt. Beide Gebäude – wenige Meter voneinander getrennt auf dem Tempelberg gelegen – sind die architektonischen Bekräftigungen des muslimischen Alleinherrschaftsanspruchs über diesen Ort.

Dabei ist der Felsendom gar keine Moschee. Er ist so etwas wie ein Schrein, eine Kuppel, die die Spitze des dortigen Felsens überspannt. Er dient Muslimen nicht als Gebetsstätte für ihre Ritualgebete, sondern hat eine historische Bedeutung, die in den Überlieferungen zur Offenbarungsgeschichte des Propheten Mohammed (s.a.s.) begründet ist. Wenn Muslime auf dem Tempelberg ihr Gebet verrichten wollen, gehen sie in die weiter südlich vom Felsendom gelegene Al-Aqsa-Moschee. Wenn sie dort gen Mekka beten, drehen sie dem Felsendom ihren Rücken zu – etwas, was Juden an diesem Ort nicht tun würden. Denn auf der Felsspitze, die heute von dem goldenen Felsendom eingefasst ist, stand ehemals das Allerheiligste des von den Römern zerstörten jüdischen Tempels.

Jerusalem

Deshalb ist Jerusalem die Gebetsrichtung, nach der sich jüdische Gemeinden während ihrer Gottesdienste ausrichten. Dieser Ort ist also beiden Glaubensgemeinschaften, Muslimen und Juden, heilig. Jerusalem war auch die erste Gebetsrichtung der frühen muslimischen Gemeinden, bis sie durch den Propheten Mohammed (s.a.s.) gen Mekka geändert wurde. An diesen historischen Moment erinnert die „Moschee der zwei Gebetsrichtungen“ in Medina. Ihre Hauptgebetsnische ist wie die jeder Moschee weltweit gen Mekka ausgerichtet. In der entgegengesetzten Richtung im Gebetssaal ist auf einem Torbogen eine kleine angedeutete Nische eingelassen, die auf die alte Gebetsrichtung gen Jerusalem hinweist.

Wenn wir die gegenwärtige Situation auf dem Tempelberg in Jerusalem auf das größte muslimische Heiligtum in Mekka übertragen, würde dies bedeuten, dass im Verlauf der Geschichte der Stadt Mekka Juden die Stadt erobert und an der Stelle der Kaaba einen jüdischen Tempel errichtet hätten und nun den Anspruch erheben, diesen Ort ausschließlich für sich zu besitzen. Ihre Gebetsrichtung und die Kaaba bliebe für Muslime nur eine historische Erinnerung, die sie versuchen durch Rituale und Traditionen über Generationen hinweg lebendig zu halten. Wie würden wir Muslime uns dabei fühlen?

Ich glaube, dass eine Versöhnung der beiden Völker nur durch ein so großes Symbol der Bereitschaft zur Koexistenz initiiert werden kann, wie sie einmalig nur auf dem Tempelberg in Jerusalem möglich ist.

Die Bereitschaft der Palästinenser, den Tempelberg für den Wiederaufbau eines jüdischen Tempels freizugeben, wäre eine historische Geste der Akzeptanz der dauerhaften Existenz des israelischen Staates und der Bereitschaft in Frieden mit Juden zusammenzuleben. Es wäre die Geste, endgültig auf den Vernichtungswillen gegen Israel zu verzichten. Es wäre ein Zeichen, dass die Palästinenser bereit sind, die Juden nicht mehr als Feinde zu betrachten, sondern mit ihnen als Nachkommen von Halbbrüdern zusammenzuleben und mit ihnen Seite an Seite auf dem Tempelberg zu beten.

Ich bin mir sicher, dass es genug muslimische und jüdische Architekten gibt, die die Errichtung eines jüdischen Tempels und den gleichzeitigen Erhalt des Felsendomes und der Al-Aqsa-Moschee baulich  gewährleisten können. Dieses religiös so bedeutsame Geschenk der Palästinenser an das jüdische Volk hätte ein derart großes emotionales Gewicht, dass dadurch vielleicht die Möglichkeit eröffnet werden könnte, das Gewicht des wechselseitig erlittenen und zugefügten Unrechts in den vielen Jahren dieses Konflikts vielleicht nicht in Gänze aufzuwiegen aber doch gemeinsam tragen zu können.

Warum soll ein solcher Schritt nicht eine Möglichkeit sein, diesen Konflikt, der unlösbar erscheint, doch noch zu befrieden? Im Augenblick ist ein solcher Vorschlag aus dem Mund eines Muslims ein Sakrileg. Denn der Tempelberg ist die Verkörperung aller muslimischen Eroberungswünsche zu Lasten des jüdischen Volkes. Ein solcher Vorschlag kann in den muslimischen Gemeinschaften nicht diskutiert werden, weil die Suche nach einem Weg der Versöhnung mit Israel noch als undenkbar begriffen wird. Aber wenn wir dieser Frage nach der Möglichkeit des Friedens mit der so nachdrücklich eingeforderten Aufrichtigkeit nachgehen, ist es vielleicht doch möglich?

In unserer heiligen Schrift, dem Koran, gibt es den göttlichen Rat, eine schlechte Tat mit der allerbesten Tat zu beantworten, damit aus Feinden Brüder werden können. Wenn die propalästinensische Szene  fragt, wie viele Kinder denn noch sterben müssen, bis dieser Krieg beendet wird, dann ist das eine Frage, die sie nicht nur Israel, sondern auch den Palästinensern stellen muss –  wenn sie denn aufrichtig propalästinensisch und nicht bloß antijüdisch sein will.