Lieber Bülent, …

Lieber Bülent,

ich bin der ältere von uns beiden, deshalb biete ich Dir das Du an. Als Zeichen meiner guten Absichten und der Hoffnung, dass wir einem großen muslimischen Publikum hier einmal exemplarisch vorleben können, wie eine in der Sache auch harte Auseinandersetzung im Ton sachlich bleiben kann. Und dass Meinungsverschiedenheiten nicht in Anfeindungen ausarten müssen.

Deshalb danke ich Dir auch ausdrücklich für Deine Ausführungen auf Deinem Facebook-Account und beim Evangelischen Pressedienst. Ich habe Deine Stellungnahme als Anmerkung meinem Blogbeitrag, der unseren Austausch jetzt verursacht hat, hinzugefügt. Damit möglichst viele ihn lesen. Das ist mir wichtig. Weil Du wichtig bist. Es hat nun einen Monat gebraucht, dass Du Deinen „Guten Morgen“-Gruß, den ich in der von mir beschriebenen hochproblematischen Weise wahrgenommen habe, einordnest. Dabei will ich die vielen wütenden Adjektive, den „Dreck“ und den „kranken Typen“ auf Deinem Instagram Account mit Blick auf Deine akademische Integrität als misslichen Ausrutscher möglichst ignorieren. Sie kommen den wüsten Beschimpfungen sehr nahe, die ich ertragen muss, weil ich mich zu dem Nahostkonflikt so äußere, wie identitäre Muslime das nicht gerne sehen. Ich halte Dir zugute, dass Du nicht so eine Auseinandersetzung führen möchtest.

Um nochmal den Hintergrund unserer Auseinandersetzung zu klären:

Du gehst davon aus, ich wolle Dich in einer bestimmten Weise „entlarven“. Ich würde Dir unterstellen, Du seist ein Antisemit, ich wolle Deine Reputation beschädigen, Dich diskreditieren. Du meinst, ich wolle einen negativen Eindruck von Dir erwecken. Du meinst, mein Antrieb seien Aufmerksamkeitsdefizite. Ich kann Dir versichern, dass das alles nicht zutrifft. Nirgends habe ich behauptet, Du seist ein Antisemit. Ich habe beschrieben, dass ich davon überzeugt bin, dass Deine Äußerung am Morgen des 7.10. ein Jonglieren mit dem Judenhass Deiner Follower ist. Das war meine Wahrnehmung. Und ich beschreibe das Fundament meiner Wahrnehmung sehr ausführlich in meinem Blogbeitrag und erläutere, vor welchem Hintergrund ich diese Überzeugung gewonnen habe. Bei jedem anderen Professor für islamische Theologie, hätte ich diesen Eindruck nicht gewonnen. Einen Eindruck, den nicht ich mit meiner Kritik erzeuge. Ich weise mit meiner Kritik darauf hin, dass Du diesen Eindruck mit Deiner Äußerung erzeugst. Und dass Du die Verantwortung trägst, das eben nicht zu tun. Diesen Unterschied ignorierst Du auch in Deiner Stellungnahme. Deshalb will ich Dir das an dieser Stelle nochmal ausführlicher erläutern.

Ich habe keine Aufmerksamkeitsdefizite, sondern einen immensen Aufmerksamkeitsüberschuss aus unserer muslimischen Gemeinschaft. Er äußert sich in Beschimpfungen und Bedrohungen. Weil ich mich kritisch zum Antisemitismus unter uns Muslimen äußere. Ich will Dir sehr gerne zugestehen, dass Du Deine Äußerung am Morgen des 7.10. zeitlich vor den Anschlägen in Israel gepostet hast. Ob das tatsächlich so ist, können wir natürlich auch gerichtlich klären, wenn Du unbedingt Wert darauf legst. Ich unterstelle Dir in dieser Diskussion aber sehr gerne, dass dem so ist. Das ändert nichts an der Tatsache, dass die Öffentlichkeit Deine Äußerung sehen und lesen konnte, während die Nahrichten hier sich mit immer grausameren Details überschlagen haben. Deine Follower lesen, was Du veröffentlichst.

Wie komme ich zu dem Eindruck, den ich beschrieben habe? Deine Follower nehmen Dich auf eine ganz bestimmte Weise war. Ist Dir diese Wahrnehmung bewusst? In der muslimischen Gemeinschaft wird Dein Wirken in Osmanbrück aufmerksam wahrgenommen. In der akademischen Landschaft, bei Kolleginnen und Kollegen, bei Studierenden der islamischen Theologie und darüber hinaus in weiten Teilen der muslimischen Zivilgesellschaft. Nein, das ist kein Tippfehler. „Osmanbrück“ ist eine Formulierung, die mittlerweile nicht nur Muslime verwenden, wenn sie sich unter vier Augen über Deinen universitären Standort unterhalten. Wusstest Du das? Hast Du ein Gespür dafür, was sie damit meinen?

Du veröffentlichst auch in türkischer Sprache. Ich habe den Eindruck, dass sich Deine Inhalte in türkischer Sprache von dem unterscheiden, was Du in deutscher Sprache veröffentlichst. Nein, das ist kein diskreditierender Vorwurf. Ich will Dich nur darauf hinweisen, dass Deine Inhalte von unterschiedlichen Zielgruppen sehr – ich sage es mal diplomatisch – „vielfältig“ wahrgenommen werden. Deine hochachtungsvollen Kondolenznoten nach dem Tod von türkischen Sektenführern, Deine Postings mit Inhalten von fragwürdigen neoosmanischen Akteuren in der Türkei, sie werden von einem Publikum wahrgenommen, das all das als Flirten mit einer bestimmten politischen Richtung und mit einem speziellen reaktionären Islamverständnis versteht. Schau Dir bitte genau an, wer Dir alles in unserer aktuellen Diskussion sekundiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mann mit Deiner Reputation und Bedeutung für die islamische Theologie in Deutschland sich mit diesem Fanblock wohlfühlt. Ich wünsche mir, dass Du Dich ausdrücklich nicht mit diesen Unterstützern wohlfühlst. Es gibt identitäre Muslime, eine nationalistische türkische Szene, fundamentalistische junge Muslime, die die Rechtsordnung in Deutschland nicht als verbindlich betrachten. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass Du für dieses Publikum „ihr Mann in Osmanbrück“ bist. Ich behaupte nicht, dass Du das sein willst, aber hast Du wahrgenommen, dass das so ist? Kannst Du vor diesem Hintergrund nachvollziehen, weshalb ich Deinen augenzwinkernden „Guten Morgen“-Gruß vom 7.10. so wahrgenommen habe, wie ich es in meinem Text problematisiere?

Meine Wahrnehmung ist in dem Blogtext, an dem Du Anstoß nimmst, eingebettet in eine Thematik, die Du in Deiner aktuellen Stellungnahme vollkommen unter den Tisch fallen lässt: Der Ausgangspunkt war die Veröffentlichung von Navid Chizari. Wenn ich mich nicht täusche, ist das ein Stipendiat des Avicenna Studienwerkes. „Deines“ Avicenna Studienwerkes. Meinen Appell zu mehr Vielfalt und Meinungsverschiedenheit, zu mehr Ambiguität in religiösen Fragen hat er zum Anlass genommen, mich als „liberalen Extremisten“ zu bezeichnen und mich mit islamistisch-extremistischen Mördern gleichzusetzen. Dir hat diese Gleichsetzung offenbar gefallen. Du hast seine Äußerung „Beim Liberalen Extremismus gibt es keine Wahrheit. Darum wird auch der Islam sinnlos.“ unterstützt. Ich habe beschrieben, wie andere Unterstützer dieser „Analyse“ in ihrem theologischen Wirken mit Osnabrück verbunden waren oder sind. Kann das der Grund für „Osmanbrück“ sein?

Junge Muslime überschlage sich mit einer Verteufelung von liberalen muslimischen Positionen, von Meinungsvielfalt in religiösen Fragen, von einer kritischen Thematisierung des Antisemitismus unter Muslimen, von einer positiven Haltung zur deutschen Gesellschaft. Einem Mann mit Deiner Intelligenz und dem täglichen Umgang mit jungen Studierenden und intensiven Kontakten in die Religionspolitik dieses Landes kann das alles nicht entgangen sein. Kannst Du erkennen, warum ich mir deshalb von Dir eine verantwortungsvollere öffentliche Kommunikation wünsche als von anderen? Wenn ich Deinen „Guten Morgen“-Gruß vom 7.10. gleichzeitig mit den Nachrichten aus Israel lese und in dieser problematischen Weise verstehe, dann tun das diese jungen Muslime auch. Und welche Schlussfolgerungen sie daraus ziehen, können wir an den gesellschaftlichen Zerwürfnissen der letzten Wochen beobachten.

Du warst aufmerksam genug, Deine Äußerung sehr zeitnah zu löschen. Ich unterstelle also, dass Du erkannt hast, dass Deine Äußerung nicht in dem Kontext verstanden werden könnte, den Du als Deine eigentliche Intention beschreibst. Kontext ist in diesen Debatten ja sehr wichtig, wie wir gelernt haben. Warum hast Du dann aber einen Monat gebraucht, um Deine Äußerung zu erklären und das Missverständnis zu korrigieren? Eine unmittelbare öffentliche Erklärung schuldest Du nicht mir. Aber Du hast sie Deiner Reputation und Deiner öffentlichen Verantwortung als muslimisches, theologisches Vorbild geschuldet. Ich bin weiterhin der Auffassung, dass Du dieser Verantwortung nicht gerecht oder jetzt viel zu spät gerecht geworden bist.

Verantwortung ist ein wichtiges Stichwort: Deine Reputation, Dein hohes Ansehen bei der Bundes- und Landespolitik, Deine wichtige Rolle bei der Entwicklung der islamischen Theologie in Deutschland – das alles ist doch nicht Ziel meiner Kritik, sondern ihre Rechtfertigung. Deshalb zitiere ich in meinem Text die vielen Verdienste, die Du Dir erworben hast. Ich unterstreiche Deine Bedeutung und frage, wie passt das alles mit Deiner Äußerung zusammen? Ich hätte mir gewünscht, dass Du diese Dissonanz viel eher aufgeklärt hättest. Und dass Du ihre mögliche Wirkung auf Dein muslimisches Publikum thematisierst – das fehlt bislang völlig.

Ich bin, wie Du sagst, nur ein „gescheiterter Verbandsfunktionär“. Damit hast Du absolut Recht. Ich bin bei meinem Versuch, die DITIB hin zu einer wirklichen deutschen Religionsgemeinschaft zu reformieren, krachend gescheitert. Das war meine größte berufliche Niederlage. Es gibt viele aktive Verbandsfunktionäre und viele Muslime in Deutschland und in der Türkei, die sich darüber sehr freuen. Ich habe immer noch die Hoffnung, dass Du Dich nicht über dieses Scheitern freust – auch wenn man Deine Stellungnahme anders lesen kann. Ich habe die Hoffnung, dass Du Deiner Verantwortung gründlicher nachkommen willst als die muslimischen Verbände es im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Verantwortung bislang an den Tag gelegt haben. Vielleicht gelangst Du dann auch zu der Überzeugung, dass meine öffentlichen Äußerungen nicht von „Islamkritik“ motiviert sind, sondern von dem Wunsch, dass sich unsere innermuslimischen Verhältnisse verbessern – auch mit Blick auf die gesellschaftliche Wirkung der universitären islamischen Theologie.

Jetzt, nachdem Du nach einem Monat endlich erläutert hast, wie Deine Äußerung vom 7.10. eigentlich verstanden hätte werden sollen, hoffe ich, dass Du Dich auch ausführlicher zu den aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen zum Thema Antisemitismus unter Muslimen äußerst. Gerade mit Blick auf Deinen oben beschriebenen „Osmanbrück“-Fanblock wäre das ein sehr hilfreicher, das gesellschaftliche Zusammenleben befriedender Impuls. Und Du hättest Gelegenheit dazu, eine Diskussion in der muslimischen Gemeinschaft über ihr Verhältnis zu Israel und zu Jüdinnen und Juden hier in Deutschland nicht nur anzustoßen, sondern inhaltlich zu begleiten und zu kommentieren. Viele junge Muslime warten darauf, dass gerade auch Du mit Deinem Aufmerksamkeitspotenzial und Deiner Reichweite das tust und ihnen Rückenwind gibst, sich gegen die Hetzer und Hassprediger durchzusetzen. Gerade weil Du betonst, dass Du Dich „auf allen Ebenen für eine jüdisch-muslimische Verständigung eingesetzt und zahlreiche Kooperationen mit jüdischen Kollegen und Institutionen in Deutschland und Israel durchgeführt“ hast, wäre es ein sinnvoller und wie ich finde überfälliger Schritt, Dich mit Deiner gesellschaftlichen Bedeutung auch an jene zu wenden, die ihre muslimische Identität als religiöse Pflicht verstehen, sich von dieser Gesellschaft und ihren Prinzipien abzuwenden. Und Du solltest dabei als Theologe auch klären, wie Du zu der von Dir geliketen Vorstellung von einem einzigen „wahren Islam“ stehst. Denn es gibt einen Zusammenhang zwischen diesen Themen.

Ich kann Dir nochmal versichern, dass meine kritische Haltung zu dem von Dir am 7.10. erzeugten Eindruck dem Interesse geschuldet ist, Deine Sensibilität für Deine oben beschriebene gesellschaftliche Verantwortung und die ambivalente Wirkung Deines öffentlichen Auftretens zu schärfen. Ich hoffe sehr und völlig frei von Ironie oder Häme, dass Du diesen holprigen Auftakt als Gelegenheit betrachtest, sich weiter – am besten ohne unnötige Adjektive und mit mehr Sachlichkeit – auszutauschen.

Alle meine Texte – auch die älteren, vielleicht auch dümmeren Texte – auf meinem mittlerweile doch recht umfangreichen Blog haben sich bislang als gerichtsfest erwiesen. Ich bin mir sicher, dass das auch für meine aktuellen Texte gilt. Deshalb stehe ich Dir auch für eine gerichtliche Diskussion zur Verfügung, wenn das Dein Wunsch ist. Ich hoffe aber darauf, dass Du einen weiteren außergerichtlichen Austausch vorziehst, weil ich glaube, dass darin für unser gemeinsames Publikum, für die Entwicklung der muslimischen Gemeinschaft und nicht zuletzt auch für Deine wichtige Außenwirkung mehr Segen liegt.

Mit freundlichem Gruß

Dein Murat