Fragen an die universitäre Islamische Theologie in Deutschland

(Anm.: Die Erstveröffentlichung dieses Textes erfolgte hier in der aktuellen „Frankfurter Zeitschrift für islamisch-theologische Studien“, im EB-Verlag Berlin)

Wer heute Islamische Theologie studieren möchte, hat die Auswahl unter den universitären Standorten in Erlangen-Nürnberg, Frankfurt/Gießen, Münster, Osnabrück, Tübingen, Berlin und Paderborn. Daneben gibt es in Baden-Württemberg an den Pädagogischen Hochschulen in Freiburg, Ludwigsburg, Karlsruhe und Weingarten die Möglichkeit, das Fach Islamische Theologie/Religionspädagogik mit dem Ziel der späteren Lehrtätigkeit im islamischen Religionsunterricht an Schulen zu belegen. Der Weg für dieses akademische Angebot wurde 2010 mit den Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Weiterentwicklung von Theologie und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen eröffnet. In diesen Empfehlungen heißt es einleitend: “Das Verfassungsrecht lässt hinreichende Spielräume für eine auch den Anforderungen der Wissenschaft angemessene Ausgestaltung des Verhältnisses des Staates zu Kirchen und religiösen Gemeinschaften im akademischen Feld, wenn auf allen Seiten die Bereitschaft besteht, die institutionellen Instrumente für seine Anwendung entsprechend weiterzuentwickeln.”

Ob diese Spielräume seit 2010 in angemessener Weise für die Etablierung islamisch-theologischer Studien genutzt wurden, haben die staatlichen und universitären Partner mittlerweile evaluiert und sich für die Fortentwicklung der begonnenen Institutionalisierung ausgesprochen. Was bislang aus Sicht des Verfassers dieses Debattenbeitrages fehlt, ist ein Kommentar zu den Entwicklungen der letzten 10 bis 12 Jahren – und vor allem zum gegenwärtigen Zustand der islamisch-theologischen universitären Landschaft – von zivilgesellschaftlicher muslimischer Seite. Die eingangs zitierten “religiösen Gemeinschaften” pflegen die übliche Tendenz des Schweigens zu den sie betreffenden Belangen im akademischen Feld. Das ist ein nicht unwesentlicher Teil der gegenwärtigen Situation und soll auch in diesem Beitrag näher beleuchtet werden.

Ergänzend richtet dieser Beitrag den Blick auf die negativen innermuslimischen Zuschreibungen an die Islamische Theologie in Deutschland und formuliert einen kritischen Kommentar zu dem bislang vermissten diskursiven Potenzial, das ausgehend von einer noch nicht stattfindenden und deshalb öffentlich auch nicht wahrnehmbaren interuniversitären Disputation auf seine Entfaltung wartet und sein gerade auch muslimisches Publikum immer noch warten lässt.

Diese kritischen Perspektiven unserer gegenwärtigen Betrachtung der Islamischen Theologie an deutschen Universitäten hat der Wissenschaftsrat in seinen oben zitierten Empfehlungen bereits 2010 vorweggenommen. Auf den Seiten 56 bis 57 heißt es dort: “Religiöse Orientierungen und Bindungen bleiben auch in westlichen Gesellschaften eine wesentliche Quelle kollektiver Wertvorstellungen und von Regeln individueller Lebensführung. Der moderne demokratische Rechtsstaat hat daher ein vitales Interesse daran, religiöse Orientierungen seiner Bürger und Bürgerinnen für die Stabilität und Weiterentwicklung des Gemeinwesens fruchtbar zu machen. Moralische Empfindungen, für deren Formulierung Religionen differenzierte und kulturell tief verankerte Ausdrucksformen entwickelt haben, stoßen auch dort auf Resonanz, wo die Gesellschaft sich als säkular versteht, und werden in den allgemeinen gesellschaftlichen Verständigungsprozess einbezogen. Religionsgemeinschaften tragen beispielsweise ihre Sicht zu Debatten über Fragen des Umgangs mit Natur oder menschlichen Grenzerfahrungen bei. Die Ausgrenzung der Theologien in eigenständige kirchliche Institutionen kann der Abschließung der jeweiligen Religionsgemeinschaft gegenüber der Gesellschaft Vorschub leisten. Daher haben Staat und Gesellschaft auch ein Interesse an der Einbindung der Theologien in das staatliche Hochschulsystem. Die Integration der Theologien stellt sicher, dass die Gläubigen ihre faktisch gelebten Bekenntnisse im Bewusstsein artikulieren, von außen auch als historisch kontingent betrachtet werden zu können. Sie konfrontiert die Religionsgemeinschaften mit der Aufgabe, ihren Glauben unter sich wandelnden Wissensbedingungen und -horizonten immer neu auslegen zu müssen. Dies kann am besten unter den an Universitäten geregelten Bedingungen wissenschaftlicher Kommunikation und Erkenntnisproduktion gelingen. Damit beugen Staat und Gesellschaft auch Tendenzen zur Vereinseitigung und Fundamentalisierung von religiösen Standpunkten vor.”

Was hier als idealtypisches Beziehungsgeflecht beschrieben wird, setzt voraus, dass sich die jeweiligen Partner dieser Zusammenarbeit im akademischen Feld intensiv mit den eigenen Ansichten, Interessen und mit der Bereitschaft zur Weiterentwicklung ihrer institutionellen Strukturen einbringen und aufeinander reagieren. Die universitären Akteure stoßen bei dieser Zusammenarbeit indes auf zwei muslimische Gruppen, deren erste Reaktion auf die Herausforderung der universitären Islamischen Theologie am treffendsten mit “Irritation” zu beschreiben ist.

Die erste Gruppe bilden die Studierenden der Islamischen Theologie. Den eigenen Erhebungen der universitären Standorte folgend, werden unter den Studierenden der Islamischen Theologie als Motive der Studienfachwahl mehrheitlich religiöse und gesellschaftspolitische Beweggründe genannt. Das eigene Muslimisch-Sein der Studierenden und ihre Erfahrungen mit einer in Teilen sehr schrillen und plakativen öffentlichen Islamdebatte der letzten Jahre fördert offenkundig den Wunsch, im Fach Islamische Theologie mehr über die eigene Religion zu lernen und die eigenen religiösen Überzeugungen mit Hilfe klassischer islamischer Lehrmethoden zu vertiefen und damit gleichzeitig zu festigen. Die Steigerung einer spirituellen Bindung zur eigenen Religion ist aber nicht die Aufgabe universitärer Standorte. Ihre Aufgabenstellung, das Feld der Religion mittels kritischer Reflexion und wissenschaftlichem Zugang zum Glauben zu bearbeiten, führt unmittelbar zu einer Konfrontation der jeweiligen Erwartungen, mit der die Islamische Theologie adressiert wird.

Um eine steigende Enttäuschung der Erwartungen ihrer Studierenden zu vermeiden, kann die universitäre Lehre nur darauf hinwirken, diese anfängliche Irritation in eine Relativierung der studentischen Ansichten und Vorannahmen über die eigene Religion zu transformieren. Diese Relativierung muss nicht die Aufgabe eigener religiöser Überzeugungen der Studierenden zur Folge haben. Ihre Wirkung muss aber doch in der Wahrnehmung und Akzeptanz der Vielfalt individueller muslimischer Lebensentwürfe und in die Pluralisierung und Differenzierung des studentischen Wissensbestandes darüber, was und wie unterschiedlich “Islam” sein kann, münden.

Wo sich eine solche Wirkung nicht entfalten kann oder auf innere Widerstände der Studierenden stößt, führt der studentische Weg nicht selten in den Abbruch des Studiums. Die zweite Gruppe der “Irritierten” ist deshalb problematischer, weil der Inhalt der universitären Lehre nicht unmittelbar auf sie einwirkt und wie im Idealfall der Studierenden etwa die Überwindung dieser Irritation bewirken kann. Ihre persönliche und institutionelle Irritation bleibt beständig und vergrößert sich zunehmend. Dies auch aus dem einfachen Grund, weil die Vertreter dieser Gruppe sich seit 2010 bis heute nicht mit ihrer Rolle in der Zusammenarbeit mit dem Staat und den universitären Standorten identifizieren können. Es handelt sich dabei um jene Institutionen, die als religiöse Gemeinschaften den verfassungsrechtlich sensibelsten Beitrag leisten müssen – und sich dem beharrlich verweigern.

Anders als in laizistischen staatlichen Organisationsformen ist unser demokratischer Rechtsstaat gerade dadurch gekennzeichnet, dass er ein starkes Interesse daran hat, die religiösen Kompetenzen und Potenziale seiner Bürger*innen für das Allgemeinwohl zu aktivieren. Dieses Interesse und diese Grundeinstellung prägt unser deutsches Religionsverfassungsrecht. Es ist diese Prägung, die den religiösen Gemeinschaften letztlich auch den Zugang zum Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft ermöglicht.

Diese Prägung hat aber auch zur Folge, dass sich religiöse Gemeinschaften nicht als isolierte Entitäten innerhalb eines Gemeinwesens wahrnehmen dürfen, das ihnen in letzter Konsequenz fremd bleibt oder bleiben soll, mit dem sie sich nicht als größere eigene Gemeinschaft identifizieren wollen. Innerhalb eines solchen staatlichen und gesellschaftlichen Gefüges reicht es – wie oben bereits zitiert – nicht aus, dass religiöse Gemeinschaften ihr Bekenntnis lediglich faktisch vorleben. Sie werden vielmehr der Erwartung des Staates und der Gesellschaft ausgesetzt, ihren Glauben vor dem Hintergrund sich verändernder Bedingungen und Herausforderungen des Zusammenlebens in einer vielfältigen Gesellschaft immer wieder aufs Neue hinterfragen und interpretieren zu müssen.

Seit 2010 arbeiten Staat, Universitäten und religiöse Gemeinschaften unter der stillschweigenden Voraussetzung zusammen, die religiösen Gemeinschaften hätten tatsächlich ein Interesse daran, ihren religiösen Wissens- und Glaubensbestand und die damit verbundenen moralischen Überzeugungen in einem von Universitäten wissenschaftlich begleiteten Prozess für alle fruchtbar in die gemeinsame Zivilgesellschaft einzubringen – und damit auch in eine für alle verständlichen deutschen Sprache zu übersetzen. Das setzt aber gleichzeitig voraus, dass es auf Seiten der religiösen Gemeinschaften die Bereitschaft zur Akzeptanz einer kritischen gesellschaftlichen Begleitung ihrer religiösen Überzeugungen gibt und dass diese Kritik auch selbstreflexiv zu Veränderungen beitragen kann. Religiöse Überzeugungen müssen in einem solchen Prozess nicht aufgegeben, aber doch zwingend kontextualisiert werden.

Dieses Spannungsverhältnis zwischen religiösen Gemeinschaften und universitären Standorten wurde bislang von den “Kinderkrankheiten” der universitären Islamischen Theologie dominiert, die aus Sicht der religiösen Gemeinschaften von einer eiligen und von der Motivlage her unpräzisen Umsetzung begünstigt wurden. Die in der politischen Sphäre verankerte Grundthese, dass universitäre islamische Studien einer Entschärfung des Islamverständnisses in den Moscheegemeinden dienen sollen, war und ist bis heute eine Belastung für alle Beteiligten dieses Vorhabens. Sie fördert Misstrauen gegenüber der Unabhängigkeit der akademischen Lehre und setzt sie dem Verdacht aus, unter dem Primat der Prävention auch inhaltlich biegsam zu sein. Bis heute führt dies zu einer mentalen Reservation der religiösen Gemeinschaften im Hinblick auf ihre Rolle in dieser Zusammenarbeit.

Auch gestaltete sich aus Sicht der religiösen Gemeinschaften die personelle Ausstattung der Lehrstühle voreilig und etabliert damit auf Jahre hinaus einen Zustand, in welchem die universitäre islamische Theologie noch in zu vielen Fällen als eine an den Erwartungen der religiösen Gemeinschaften gemessen nicht tragfähige und belastbare Disziplin wahrgenommen wird. Auch ihre öffentliche Positionierung im populärwissenschaftlichen Diskurs folgt dieser Bewertung und trägt Positionen in die Debatte, die nicht die Perspektive von in Deutschland sozialisierten Muslimen spiegeln, sondern biographische Spuren der Migration oder der Flucht vor repressiven Regimen tragen. Das muss grundsätzlich keine Hypothek für die Qualität der universitären Forschung und Lehre sein. Indes erleichtert dieser Zustand nicht die Wahrnehmung, dass hier deutsche Muslime ganz selbstverständlich aus einer einheimischen Perspektive ihre Religion akademisch durchdringen und ihre historischen theologischen Befunde für diese Gesellschaft nutzbar machen. Das wiederum erleichtert es den religiösen Gemeinschaften, die Authentizität und lokale Kontextualisierung der universitären Theologie infrage zu stellen, ohne sich mit den einflussreichen eigenen Auslandsbezügen und -abhängigkeiten kritisch auseinandersetzen zu müssen.

Alle diese Aspekte stellen für die religiösen Gemeinschaften eine permanente und zunehmende Überforderung dar. Sie haben weder die personellen Ressourcen noch eine institutionell entwickelte und tradierte Kompetenz in diesen Fragen der Zusammenarbeit im akademischen Feld. Sie sind rechtlich wie tatsächlich kaum in der Lage, all die in der Entwicklung befindlichen universitären Prozesse konstruktiv zu begleiten, geschweige denn im eigenen Interesse mitzugestalten. Sie können mit den inhaltlichen Anforderungen nicht mehr mithalten. Dieses Gefühl der Überforderung führt dazu, dass in den religiösen Gemeinschaften die Neigung zum Stillstand wächst. Innehalten, den Status quo einfrieren, intern Grundsatzdebatten führen und nach außen besser gar nichts entscheiden, als falsch zu entscheiden. Das ist – so scheint es von außen – das prägende Gefühl innerhalb der religiösen Gemeinschaften. Nicht selten ist ihr Agieren nach innen wie außen eine schlichte Nichtkommunikation. Weder ihre eigene Basis, noch die Allgemeinheit haben Einblick in ihre Entscheidungsgrundlagen in Fragen der universitären Zusammenarbeit.

Die Einbindung der religiösen Gemeinschaften in die Beiratsarbeit der universitären islamischen Theologie war auch das Ergebnis der Annahme, sie seien die gemeindlich relevanten Kräfte und die zukünftigen Arbeitgeber der sich für den gemeindlichen Dienst entscheidenden universitären Absolventen. Noch einfacher formuliert: Die Verbände sollen bei der universitären Lehre mitentscheiden dürfen, damit es ihnen leichter fällt, die Absolventen, deren Studien sie ja personell und inhaltlich zumindest mittelbar mitgestaltet haben, auch in den Dienst als Imame in ihren Moscheen einzustellen. Wie realistisch ist eine solche Annahme als Grundvoraussetzung der Zusammenarbeit eigentlich heute noch?

Die rituellen Räume der religiösen Gemeinschaften sind faktisch religiöse Männerwelten. Der gemeindliche Dienst wird nahezu vollständig nach den Bedarfen der männlichen Gemeindemitglieder geplant und durch männliches geistliches Personal erbracht. Die Studierenden der Islamischen Theologie sind aber größtenteils weiblich. Wie wahrscheinlich ist vor diesem faktischen Hintergrund die Erwartung, allein die Zahl der Absolventinnen der Islamischen Theologie werde in den religiösen Gemeinschaften zukünftig ein Umdenken befördern?

Angesichts der Tatsache, dass mit fortschreitendem Studium es auch für die Studierenden immer wichtiger wird, welche Berufsorientierung ihnen das Fach bietet, stellt sich immer lauter die Frage, ob die zukünftige Beschäftigungsmöglichkeit der Absolvent*innen in Gemeinden der muslimischen Verbände in Deutschland nicht unter neuen Vorzeichen der Dringlichkeit und Relevanz diskutiert werden muss.

Wenn diese berufliche Perspektive immer weiter schwindet und durch die eigene, an das Ausland gebundene Personalpolitik der betroffenen Verbände sich zunehmend als unwahrscheinlich darstellt, welche Legitimation hat die Kooperation mit diesen Verbänden dann noch? Wozu die mittels religiöser Beiräte organisierte Mitbestimmung der Verbände privilegieren, wenn sie das Resultat ihrer Mitbestimmung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ohnehin nicht in ihren Gemeinden wirksam werden lassen? Sollen sie in gewisser Weise nur die “Reinheit der muslimischen Lehre” gewährleisten, wo sich der religiös-weltanschauliche Staat aus verfassungsrechtlichen Gründen eine religiöse Kompetenz verbieten muss? Wird ein solcher religionstheoretischer “Klerus” durch das islamische Selbstverständnis nicht ausdrücklich abgelehnt?

Wo kann in dieser tatsächlichen und rechtlichen Gemengelage eine Lösung zu finden sein? Da sich der Versuch, eine zentrale muslimische Autorität als Ansprechpartner für den Bereich der “res mixtae” zu etablieren, wiederholt und zunehmend als untauglich entpuppt, muss die Lösung in der umgekehrten Richtung gesucht werden: Nicht in der Zentralisierung von Kompetenz und Entscheidungsmacht, sondern in der höchstmöglichen aber noch praktisch handhabbaren Pluralisierung und Demokratisierung von Entscheidungsprozessen. In einer solchen Entwicklung haben auch die Verbände als wichtige Stimmen unter vielen anderen Wichtigen ihren Platz. Das Ergebnis könnte die Privilegierung des fachkompetenten Meinungsstreites und der Konsensfindung zu Lasten des autoritären Machtworts sein – das aktuell viel zu oft nur aus purer Ohnmacht gesprochen wird und zum Stillstand führt.

Eine weitere Herausforderung trifft die universitären Standorte der Islamischen Theologie aus einem Bereich, den sie vielleicht noch gar nicht vollständig wahrnehmen, der aber bereits jetzt Wirkungen auch in die universitäre Landschaft hinein zu entfalten geeignet ist. Radikale muslimische Stimmen in den Sozialen Medien, deren negative Wirkung auf ein junges muslimisches Publikum nicht unterschätzt werden darf, haben eine klare Vorstellung davon, was sie von dem Anspruch des wissenschaftlichen, selbstreflexiven und hinterfragenden Zugangs der universitären Theologie zur Religion zu halten haben. Die staatliche universitäre Theologie sei nichts anderes als eine Anleitung zum Unglauben. Wer sich diesem Studium aussetze, dem werde der Weg zum Glaubensabfall beigebracht. Diese Stimmen instrumentalisieren die eingangs zitierte Irritation der Studierenden der Islamischen Theologie mit dem Ziel der Stigmatisierung und Delegitimation jeder wissenschaftlichen und kritischen Auseinandersetzung mit religiösen Glaubensinhalten und Traditionen. Hinzu kommt, dass diese Stigmatisierung nicht nur auf die Institution Universität zielt, sondern auch auf den Staat, der die Etablierung Islamischer Theologie an universitären Standorten fördert. Damit wird eine Verschwörungserzählung konstruiert, die die grundsätzlich positiven und selbstrelativierenden Wirkungen der Theologie an universitären Standorten zur bösen Absicht eines Staates umwandelt, der mit diesem Instrument Muslime von ihrem “wahren Glauben” entfremden will.

Solche Infragestellungen können auf Studierende eine Wirkung entfalten, unter deren Einfluss sich Verhaltensweisen etablieren, mit denen eine vermeintlich besonders fromme Ausprägung des eigenen Handelns dokumentiert und die Gefahr der Distanzierung vom “wahren Kern” des eigenen Glaubens kompensiert werden sollen. Aus der sich als besonders orthodox begreifenden muslimischen Jugendszene ist zum Beispiel bekannt, dass im Zuge von Videokonferenzen die männlichen Teilnehmer mit aktiver Kamera zu sehen sind, die weiblichen Teilnehmerinnen jedoch ausdrücklich die eigene Kamera ausschalten und nur über die Audiospur zu hören sind. Dass eine solche Praxis bei Videokonferenzen zwischen Studierenden und universitären Lehrkräften auch nicht unüblich zu sein scheint, stellt die Frage in den Raum, ob und in welcher Weise solche Verhaltensmodelle in den Kontext der islamischen Lehre und des gesellschaftlichen Zusammenlebens in einer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft eingeordnet werden.

Der Wissenschaftsrat hat in seinen Empfehlungen vor 12 Jahren deutlich gemacht, wie wichtig es ist, dass sich “Standorte für theologisch orientierte Islamische Studien mit unterschiedlichen Profilen entwickeln, um auch die institutionellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Pluralität islamischen Glaubens in der Bundesrepublik Deutschland adäquat berücksichtigt werden kann.” (WR, S. 76)

Und weiter: “Wenn es gelingt, Islamische Studien im Sinne der reflexiven Vergewisserung der Glaubensinhalte der islamischen Traditionen (im Plural) zu institutionalisieren, dann liegt die Zukunft der Islamischen Studien nicht notwendig in einem Prozess der Konfessionalisierung nach dem Muster der christlichen Konfessionen. Islamische Studien sollten grundsätzlich alle Richtungen islamischer Glaubenstradition und Gelehrsamkeit einschließen und sich nicht exklusiv auf eine Traditionslinie beziehen. Eine Aufgabe der Institutionalisierung Islamischer Studien an deutschen Universitäten besteht genau darin, eine solche reflexive Selbstvergewisserung der pluralen islamischen Tradition im Dialog mit den anderen Universitätsdisziplinen zu fördern.” (WR, S. 81–82)

Die für die zukünftige Entwicklung der universitären Islamischen Theologie bedeutende Frage nach nunmehr fast 12 Jahren lautet: Gibt es diese unterschiedlichen Profile? Gibt es eine Pluralität der islamischen Traditionen, die sich im Personal und in der inhaltlichen Gestaltung der islamischen Lehre manifestiert? Wenn es sie gibt, ist sie nur den universitären Akteuren selbst oder ihren Kolleg*innen anderer Universitätsdisziplinen bekannt. Ihren Weg, geschweige denn ihren Einfluss auf unsere öffentlichen Debatten, auf die wichtigen Fragen der muslimischen Selbstverortung in Fragen an die universitäre Islamische Theologie in Deutschland und auf den auch von nicht muslimischen Stimmen geführten Islamdiskurs hat sie bislang noch nicht mal ansatzweise gefunden.

Dieser Gedanke sei an dieser Stelle ausdrücklich als Aufforderung zur Gegenrede und zur kritischen Debatte formuliert: Es gibt aktuell keinen öffentlichen Meinungsstreit der universitären Lehrkräfte über islamisch-theologische Fragen. Es gibt keinen öffentlich wahrnehmbaren oder gar ausdrücklich geführten fachlichen Disput unserer universitären Experten der islamischen Theologie. Das Profil einzelner Professor*innen ist höchstens einem interessierten Fachpublikum bekannt.

Wie sollen wir Muslim*innen mit den Elementen unserer Glaubenslehre umgehen, die im Zuge unserer Verortung in Deutschland als Lebensmittelpunkt und Heimat Fragen oder gar Konflikte aufwerfen? Es gibt aktuell kein Fachgespräch oder gar einen Meinungsstreit zwischen Lehrenden der Islamischen Theologie an deutschen Universitäten, die einem muslimischen Publikum als spirituelle Orientierung und einem nicht muslimischen Publikum zum besseren Verständnis des Islam und zur Wahrnehmung seiner allgemeinwohlförderlichen Potenziale dienen könnten.

Momentan erschöpft sich die öffentliche Rolle des universitären Lehrpersonals in der Funktion von Experten, die zur sachlichen Einordnung von Einzelaspekten befragt werden. Darüber hinaus entfalten sie kaum gesellschaftspolitisches Engagement aus ihrer universitären Funktion heraus. Wenn es dieses Engagement gibt, dann entfaltet es sich außerhalb der Universität, ohne Bereitschaft zur fachlichen Kontroverse, quasi aus der Rolle des religiös interessierten muslimischen Bürgers.

Aber: Einordnung ist nicht mehr genug. Denn die muslimische, wie auch die nicht muslimische Öffentlichkeit braucht gegenwärtig mehr als nur akademische Lageristen, die sperrige religiöse Ansichten in die Regale der islamischen Lehre einordnen. Wir brauchen zunehmend gerade universitäre Akteure, die bereit sind, das religiöse Inventar wertend in den gesellschaftlichen Kontext zu stellen, in dem wir leben. Haben alle Aussagen und Schlussfolgerungen der islamischen Lehre im Kontext unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit weiterhin ihre Berechtigung? Diese Frage kann nur in einer öffentlich wahrnehmbaren Disputation zwischen den religiösen Standorten und ihren führenden Akteuren beantwortet werden. Wir müssen es zukünftig erleben, dass universitäres Personal, das vom Schicksal mit der Gunst der historischen Etablierung der universitären Standorte und einer damit einhergehenden Sicherung der beruflichen Existenz auf Lebenszeit gesegnet wurde, nun auch mutig und bereit ist, aus dieser stabilen Position heraus kontroverse Disputationen vor dieser und für diese Gesellschaft zu führen.

Das ist keine “rein akademische” Frage, sondern eine sehr konkrete und gesellschaftlich dringliche Herausforderung. Sie sei abschließend an einem Beispiel veranschaulicht. Der aktuelle Sieg der Taliban im afghanischen Machtkampf war und ist mehr als nur ein ausländisches Nachrichtenereignis irgendwo am Hindukusch. Das “Ob” ihres Machtanspruchs und das “Wie” ihrer staatlichen Machtausübung sind unter theologischen Gesichtspunkten kein Missbrauch des Islam, sondern ausdrücklich sein Gebrauch. Die Taliban erfinden dabei keine neue, moderne Methodik der Anwendung religiöser Normen oder der Rechtsfindung durch theologische Exegese. Sie wenden jene Ergebnisse an, die sie den klassischen, gewachsenen Denk- und Rechtsschulen der historischen islamischen Theologie – oder besser Methodologie – entnehmen können.

Sie bedienen sich dabei nicht willkürlich mal in dieser oder mal in jener Tradition. Sie wenden die Quellen ihrer religiösen Gelehrtentradition nicht beliebig an. Sie orientieren sich konsequent an den Ergebnissen, die die hanafitische Rechtsschule in Verbindung mit der maturidischen Denk- und Glaubensschule bereits vor Jahrhunderten vorformuliert hat. Ihr Anspruch resultiert aus der jahrhundertealten Frage muslimischer Rechtsgelehrter, wie eine Gesellschaft, die den Grenzen einer kleinen, lokalen Stammesgemeinschaft entwachsen ist und nun ganze Städte, Länder und Kontinente umfasst, zu regieren sei. Da es keine neue göttliche Offenbarung geben wird, da es keinen neuen Propheten geben wird, der die Gemeinschaft bei der Anwendung der religiösen Ge- und Verbote anleitet, muss eine Antwort gefunden werden, wie neue Normen für eine Millionen umfassende Gemeinschaft gesetzt und angewandt werden können.

Die Taliban wenden jene Antworten an, die historisch formuliert wurden. Jede ihrer Praktiken, die nicht persönlicher Willkür entspringen, sondern religiös begründet werden, beruhen auf den Vorgaben und Ergebnissen der historisch gewachsenen islamischen Jurisprudenz, des fiqh. Todesstrafen, Körperstrafen, das Verständnis von individueller Freiheit und die Grenzen dieses Verständnisses, der Status der Frauen, der Andersgläubigen, der Glaubensabweichler, schlichtweg jede Entscheidung im Hinblick auf Abweichungen von den vorgegebenen religiösen Normen ist keine Neuerfindung der Taliban. Sie sind bereits in dem Fundus der klassischen islamischen Jurisprudenz enthalten und werden durch die Taliban lediglich angewandt.

Damit gehören die Taliban zu den “Leuten der Sunna und der Gemeinschaft” – ahl as-sunna wa-l-ǧamāꜥa. Sie haben ihren theologisch legitimen Platz in den Reihen der Sunniten, jener Muslime, die dem Brauch, der Handlungsweise, der Tradition des Propheten (s.a.s.) folgen. Für die muslimischen Verbände in Deutschland, insbesondere für die türkeistämmigen Verbände sind die Taliban damit im theologischen Sinne uneingeschränkt Glaubensbrüder. Deshalb war von ihnen auch kaum etwas zu den Vorgängen in Afghanistan zu hören. Es dominierte ein stilles Abwarten. Der staatliche Machtanspruch und seine religiöse Untermauerung wurde weitestgehend auch dann nicht infrage gestellt, als deutlich wurde, dass die Gewaltanwendung der Taliban mit der Nachahmung klassischer theologischer Ergebnisfindung begründet werden konnte.

Es gibt Muslime, die dazu bereit sind, ihr Gewissen gegen ein Buch aus dem Regal der klassischen islamischen Jurisprudenz einzutauschen und vor Jahrhunderten gefundene Ergebnisse der religiösen Rechtsauslegung unverändert auch heute noch nachzuahmen.

Und auch hier in Deutschland gibt es Muslime, die eine solche Praxis hier vor Ort nicht begrüßen, aber ihre Ausübung in Afghanistan als islamisch legitim zu betrachten bereit sind. Vor diesem Hintergrund können wir uns keine universitäre islamische Theologie mehr leisten, die zu solchen Fragen weiterhin schweigt.

In diesem Kontext gab es – soweit der Verfasser dieses Beitrages es überblicken konnte – nur eine Äußerung eines führenden Vertreters der universitären Islamischen Theologie. Und die auch nur in Gestalt eines Facebook-Postings. Die namentliche Zuordnung ist an dieser Stelle irrelevant. Es geht nicht um Einzelpersonen, sondern um die beschriebene Problematik der zukünftigen Funktion und Rolle universitärer Theologie im gesellschaftlichen Diskurs.

Die Äußerung hatte folgenden Inhalt: “Ohne eine theologisch verantwortbare Weiterentwicklung des klassischen Traditionsbestands islamischer Normenlehre kann man sich nicht glaubwürdig von der Praxis der Taliban distanzieren und abgrenzen. Und dies ist keine Aufgabe für in westlichen Medien hochgefeierte unseriöse Islamkritiker, die sich selbst narzisstisch gerne als muslimische Luther sehen wollen würden, sondern eine hochkomplexe wissenschaftliche Betätigung, die mit religiöser Autorität und einem entsprechenden Habitus auszuüben ist. Alles andere führt zu Selbstgesprächen ohne irgendwelche Auswirkungen auf die muslimischen Communities.”

Die Äußerung ist unter vielen Gesichtspunkten bedeutsam. Ohne Weiterentwicklung der islamischen Normenlehre, keine glaubwürdige Distanzierung von der Praxis der Taliban. Deren Praxis entspricht also der aktuellen islamischen Normenlehre. Das ist eine Zustandsbeschreibung, aus der eine direkte Aufgabenstellung an die religiösen Gemeinschaften und an die universitäre Islamische Theologie resultiert. Diese Diskussion verdient ein Forum, das über einen Facebook-Eintrag hinaus geht. Warum findet sich dieses Forum nicht an und in den Universitäten? Warum wird diese Diskussion nicht von und zwischen universitären Lehrkräften öffentlich geführt?

Die Weiterentwicklung ist laut Urheber des Zitates eine hochkomplexe wissenschaftliche Betätigung. Wo sonst, wenn nicht an den Universitäten soll diese Betätigung stattfinden? Warum warten wir noch immer auf ihre Umsetzung?

Zu der notwendigen und überfälligen interuniversitären Diskussion muss auch die Frage gehören, ob die geforderte “religiöse Autorität” an der Universität und bei ihrem Lehrpersonal zu verorten ist. Muss sich dieses Personal nicht vielmehr an wissenschaftlicher Kompetenz messen lassen und in diesem Rahmen agieren? Gehört die Umsetzung der an der Universität und den dortigen Diskursen geführte Vergewisserung und Relativierung religiöser Wissens- und Traditionsbestände nicht in den Zuständigkeitsbereich religiöser Autoritäten, die ihre jeweiligen Ämter innerhalb der religiösen Gemeinschaften bekleiden? Ist ein Hochschullehrer immer und zwingend auch eine religiöse Autorität? Soll oder darf ein Hochschulbeamter überhaupt eine solche religiöse Autorität sein?

Was ist mit dem “Habitus” gemeint, mit dem die wissenschaftliche Betätigung neben einer religiösen Autorität auszuüben ist? Worauf bezieht sich die “Entsprechung”? Auf die wissenschaftliche Arbeit? Oder auf die religiöse Autorität? Das ist keine bloße Rabulistik. In den offenen Antworten auf diese Fragen bleibt bislang noch verborgen, ob wir uns auf einen autoritären Habitus universitären Lehrpersonals einstellen müssen. In der klassischen islamischen Gelehrsamkeit ist die Verehrung religiöser Autoritäten keine Seltenheit – inklusive der ehrfurchtsvollen Verbeugungen und Handküssen. Die Zukunft der universitären Islamischen Theologie sollte tunlichst nicht in der Einübung von traditionellen Überwältigungsgesten und außergemeindlicher religiöser Hierarchie zwecks Durchsetzung der Lehrinhalte liegen.

Und in der weiter anhaltenden inhaltlichen Abschottung der einzelnen Standorte – so wird der gegenwärtige Zustand einer fehlenden Disputation zwischen den universitären Standorten wahrgenommen – wird kein Segen für die geistig-spirituelle Zukunft der Muslime in Deutschland liegen.

Als theologischer Laie und Teil des muslimischen Publikums kann der Verfasser dieses Beitrages nur Fragen formulieren. Um Antworten muss nun – hoffentlich bald – das Personal der universitären Islamischen Theologie öffentlich wahrnehmbar ringen – wenn der Gehalt der theologischen Forschung und Lehre nicht nur Studierenden zugutekommen soll.