Das M-Wort

„12 Ausländer, 9 Deutsche, 3 Deutsche mit Migrationshintergrund“. So beschreibt die Bild-Zeitung den Kreis der bislang verhafteten mutmaßlichen Täter der Stuttgarter Randalenacht. Das Wort „Migrationshintergrund“ wird mir in diesem Moment, in welchem ich diesen Text tippe, vom Textverarbeitungsprogramm als Schreibfehler angezeigt. Ich schaue nochmal aufmerksamer auf die Buchstaben, um mich zu vergewissern, dass ich mich nicht vertippt habe. Mi-gra-tions-hin-ter-grund. Nein, alles richtig. Wirklich?

Was wissen wir über die 9 Deutschen aus der Bild-Überschrift? Welche Vorstellung haben wir über sie, allein aufgrund der besonderen Aufzählung, mit welcher sie hier separat genannt werden? Wie stellen wir uns diese 9 Deutschen vor? Haben wir irgendeine Vorstellung darüber, wie sie aussehen? Was für Menschen sie sind? Ob sie religiös sind? Und wenn ja, was ihren Glauben ausmacht? Welche kulturellen Prägungen sie haben?

Nein, über diese 9 Deutschen haben wir praktisch keine Vorstellung. Wir haben keine Vermutung, keine intuitive Ahnung, keine instinktive Mutmaßung zu ihren Persönlichkeiten oder Handlungsmotiven.

Wir wissen nicht, ob es verhaltensgestörte, Lust an der Gewalt empfindende Kriminelle sind. Wir wissen nicht, ob sie zu gewalttätigem Verhalten neigen und eine polizeiliche Maßnahme als willkommene Gelegenheit zu Gewaltexzessen wahrgenommen haben.

Wir wissen nicht, ob ihr Verhalten wegen oder trotz ihrer familiären Umstände in eine Gewalteskalation umgeschlagen ist.

9 Deutsche

Wir wissen nicht, ob sie spontan oder eher planerisch vorgegangen sind. Wir wissen nicht, ob sie Sachbeschädigungen oder Körperverletzungen oder beides begangen haben. Wir wissen nicht, ob es ihnen darauf ankam, Menschen zu verletzen oder ob sie sich eher damit abgefunden haben, dass bei ihren Ausschreitungen auch Menschen verletzt werden könnten.

Wir wissen nicht, ob sie kalkulierend und vorausschauend gehandelt haben oder eher rauschhaft im Eifer einer Gruppendynamik einfach „mitrandaliert“ haben. Wir wissen nicht, ob sie Steine gegen Schaufenster geworfen haben oder gegen Polizeikräfte.

All diese Fragen zu den objektiven Details und den subjektiven Motiven ihres Handelns sind für uns zum jetzigen Zeitpunkt offen.

Die Ermittlungsbehörden werden ermitteln. Die Justiz wird urteilen. Der Rechtsstaat wird diese 9 Deutschen so behandeln, wie es sich für einen Rechtsstaat gehört – nämlich nicht „mit der ganzen Härte“ oder „mit aller Kraft“, wie es in autokratischen und diktatorischen Regimen geschieht, sondern verhältnismäßig, also jeden Einzelnen seiner individuellen Tat und Schuld angemessen.

Bis zu diesem Zeitpunkt einer etwaigen Verurteilung gilt für diese 9 Deutschen ein weiterer Grundsatz unseres Rechtsstaates, nämlich die Unschuldsvermutung. Nicht sie müssen beweisen, dass sie unschuldig sind. Dies wird zu ihren Gunsten angenommen, bis die Staatsanwaltschaft beweist, dass sie schuldig sind, dass und warum und wessen sie sich strafbar gemacht haben.

Sollte es während dieser Verfahren nicht gelingen, ihnen eine Schuld nachzuweisen, wird ein weiterer Grundsatz des Rechtsstaates zu ihren Gunsten streiten: wenn das Gericht nicht von der Schuld der Angeklagten überzeugt ist, hat es sie freizusprechen.

Dieser Zweifelssatz, Kern eines jeden rechtsstaatlichen Systems, wird im englischsprachigen Raum mit unterschiedlichen Formulierungen beschrieben. Eine davon lautet „benefit of the doubt“. Es ist eine sprachlich schöne Formulierung: Der Vorzug des Zweifels. Oder: Der Vorteil der Ungewissheit. Ein Vertrauensvorschuss.

3 Deutsche

Was ist mit den 3 Deutschen mit Migrationshintergrund? Wir leben mittlerweile in einer Gesellschaft, in der es bei Nachrichten zu Gewalttaten ab dem ersten Moment darauf ankommt, wer der mutmaßliche Täter ist. Oder präziser formuliert: was der Täter ist. Und ob er einen Migrationshintergrund hat. Das Wort mutet im ersten Moment diplomatisch an. Mit ihm soll das Wort „Ausländer“ oder „ausländische Herkunft“ vermieden werden.

Denn wir haben begriffen, dass es mittlerweile Menschen bei uns gibt, die zwar nicht hier geboren sind oder deren Eltern nicht hier geboren sind, aber die auf Dauer hier leben werden. Auch ihre Kinder und Enkelkinder und alle Generationen danach werden dauerhaft in Deutschland leben. Sie sind keine „Ausländer“ mehr.

Wir nennen sie aber auch nicht schlichtweg „Deutsche“. Denn es ist uns wichtig, zu unterscheiden, dass es in unserem Land „Deutsche“ gibt und dann solche Menschen, die sich als „Deutsche“ bezeichnen, die sich vielleicht auch als „Deutsche“ fühlen, egal was das in jedem Einzelfall bedeuten mag, die wir aber nicht wirklich zu der Gruppe der „Deutschen“ zählen.

Wie lange man hier leben muss, bevor es keinen Unterschied mehr macht, dass die Vorfahren nicht in Deutschland geboren wurden, darüber haben wir noch keine konkrete Vorstellung. Dass jemand „de Maizière“ heißt, oder „Wieczorek-Zeul“ oder „Lafontaine“, ist der Annahme, es handele sich bei diesen Personen um „Deutsche“, nicht abträglich. Das gilt aber für die „Yüksels“, „Arslans“ oder „Traorés“ noch lange nicht.

Es mutet merkwürdig an, aber es irritiert uns nicht, dass „Deutsche“ auch mal „Kevin“ oder „Chantalle“ oder „Mandy“ heißen können. Dass aber „Fatimas“, „Ahmets“ oder „Özlems“ ebenso „Deutsche“ sein sollen, das verstört uns.

Wir empfinden die zum Oktoberfest Zugereisten aus Japan oder Kanada, die im Vollsuff gegen die Kirchenmauer pinkeln, weitaus weniger als „Ausländer“ als den „Mohammed“, der seit zwanzig Jahren im Nachbarhaus wohnt.

„Deutsch“ ist kein Faktum, auch wenn wir rechtlich betrachtet auf die Faktizität von Herkunft, Aufenthaltsdauer, Abstammung, Lebensmittelpunkt, Sprachfähigkeit, Berufstätigkeit etc. abstellen.

„Deutsch“ ist ein „Jefühl“. Und praktischerweise entscheiden die „Deutschen“ darüber, wen sie an dieser Gefühlsgemeinschaft teilhaben lassen wollen. Man kann sich noch so sehr darauf berufen, hier geboren zu sein, alle bislang geforderten rechtlichen Voraussetzungen zu erfüllen, sich für dieses Land und das gemeinsame Leben darin einzusetzen. Uneingeschränkt „Deutsch“ zu sein, ist bislang aber keine Frage der Selbstdefinition.

Das Gefühl der deutschen Überlegenheit

Denn solange es die Vorstellung davon gibt, dass es etwas gäbe, das als „Deutsches“ allem „Nichtdeutschen“ überlegen sei, solange wird es unmöglich gemacht, sich selbst wirksam und mit Durchsetzungskraft im öffentlichen Raum eigenständig als „Deutsch“ zu definieren.

Denn seien wir doch ehrlich mit uns und unseren Debatten: Sobald über eine Gewalttat berichtet wird, die im ersten Moment den äußeren Anschein eines Terroraktes aufweist, warten wir gebannt darauf, etwas über den Täter zu erfahren. Ist er „Deutscher“, ist für uns das Motiv seiner Tat noch nicht abschließend geklärt. Wir warten dann darauf, ob die Ermittlungsbehörden von einem „politischen Hintergrund“ ausgehen, eine psychische Erkrankung feststellen oder ein Familiendrama aufdecken. Nebenbei gefragt: Seit wann ist eigentlich „politisch“ zum Synonym von „terroristisch“ geworden?
Denn wenn der Täter „Deutscher“ ist, gehen wir davon aus, dass er kein Muslim ist, dass er keinen Migrationshintergrund hat.

Der Migrationshintergrund als Merkmal eines Täters ist nicht bloß ein sachliches Detail. Es ist kein bloßes Faktum. Fakten erklären in unseren Debatten nichts. Fakten sind gleichgültig, zweitrangig, bedeutungslos geworden. Der Migrationshintergrund als erläuternder Annex zu einer Person ist der umgekehrte Zweifelssatz im öffentlichen Raum: Er ist der Misstrauensvorschuss.

Der „Migrationshintergrund“ ist nicht bloß die faktische Feststellung, dass es da Menschen gibt, die selbst oder deren Eltern vor vielen Jahren von woanders hergekommen sind.

Es ist die Vermutung, ja mittlerweile die im Zweifel von den Betroffenen selbst zu widerlegenden Annahmen, man habe da jemanden vor sich, der mindestens zivilisatorisch rückständig ist. Der genetisch bedingt oder aufgrund seines Glaubens mit geringeren kognitiven Fähigkeiten ausgestattet ist. Der kulturell archaisch geprägt, sexuell enthemmt und nicht zur Selbstkontrolle fähig ist. Der heimtückisch, eigennützig, selbstsüchtig und faul ist. Der von Natur aus oder durch seinen Glauben konditioniert gewaltbereit, ja geradezu gewaltfreudig ist. Der dieses Land verachtet, seine Frauen als Beute, seine Ressourcen als Raubgut plündert.

Bei den „3 Deutschen mit Migrationshintergrund“ aus der Bild-Überschrift sind die eingangs aufgezählten Fragen nicht offen. Bei ihnen gilt bis zum eindeutigen Beweis des Gegenteils die sichere Annahme, dass die Gewalt im Zentrum Stuttgarts auf die soeben beschriebenen negativen Eigenschaften zurückzuführen sind. Der „Migrationshintergrund“ enthält also keine sachliche Information. Er erhält vielmehr eine Stigmatisierung aufrecht, die wir in unseren öffentlichen Debatten unzählige Male formuliert und exekutiert haben.

Der „Migrationshintergrund“ erfüllt nur noch einen Zweck

Niemand, der die Überschrift „3 Deutsche mit Migrationshintergrund“ liest, stellt sich dabei vor, dass es sich um junge Männer handeln könnte, die aufgrund schlechter gesellschaftlicher Startbedingungen, durch systematische Ungleichbehandlung und alltägliche Diskriminierung frustriert sind und dass sich ihre Frustration in spontane Gewalt gegen jene Staatsdiener entlädt, die ihnen als Repräsentanten eines Gesellschaftsvertrages gegenüber stehen, um dessen Aufstiegsversprechen sie sich betrogen fühlen.

Ich behaupte überhaupt nicht, dass das die Erklärung für die Stuttgarter Randale ist. Im Gegenteil bin ich eher dazu geneigt, zu vermuten, dass es sich um eine sehr banale, völlig unpolitische jungmännliche Gewaltorgie gehandelt hat – was die Ereignisse weder entschuldigt, noch herunterspielen soll.

Worauf ich hinaus will: Der „Migrationshintergrund“ hat sich in seiner diplomatischen Funktion der Überwindung von Ausgrenzung längst erschöpft. Er ist mit all den Assoziationen, mit denen dieser Begriff mittlerweile gefüllt wird, zum Gegenteil seiner ursprünglichen Intention mutiert: Heute dient der „Migrationshintergrund“ nur noch dazu, gesellschaftlich akzeptiert und semantisch vermeintlich harmlos mindestens die Nase über Menschen zu rümpfen, wenn nicht gar verächtlich vor ihnen auszuspucken. Dabei tarnt er sich als rein faktische, sachliche Informationsaussage über die personelle Ausprägung der Einwanderungsgeschichte dieses Landes.

Der „Migrationshintergrund“ beschreibt nicht die Lebensleistungen, mit der unter ungleichen Bedingungen enorme gesellschaftliche Hürden überwunden und vielfältige Erfolgsgeschichten in Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft, Sport und Politik geschrieben wurden. Der „Migrationshintergrund“ signalisiert den „Deutschen“ nicht, dass es da Menschen gibt, die es sich durch Identifikation und Engagement errungen haben, gleichberechtigte „Deutsche“ zu sein.

Der „Migrationshintergrund“ signalisiert allen „Deutschen“ vielmehr, wer aufgrund der durch ihn zugeschriebenen negativen Eigenschaften nicht vollends, nicht endgültig, nicht wirklich zu der Gemeinschaft der „Deutschen“ dazugehört und auch nie dazugehören wird. Er erfüllt damit eine ähnliche gesellschaftliche Ausgrenzungs- und Markierungsfunktion, wie das N-Wort oder das K-Wort.

Es wird Zeit, dass wir darüber diskutieren, ob nicht auch das M-Wort die Berechtigung seiner Verwendung im öffentlichen Raum längst verloren hat.