Corona – Sind die muslimischen Verbände auf die steigende Zahl von Sterbefällen ausreichend vorbereitet?

Wir erleben in diesen Tagen und Wochen, wie brüchig und unbeherrschbar vermeintliche Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten des Alltages eigentlich sind. Was wir uns vorgenommen haben, was wir planen und wie wir uns unser Leben im Jahresverlauf vorgestellt haben – all das wird nun ganz plötzlich auf den Kopf gestellt.

Uns werden Themen ganz deutlich vor Augen geführt, die wir sonst in unserem Alltag häufig verdrängen. Unsere Vergänglichkeit, die schicksalhaften Wendungen, die unser Leben nehmen kann, uns auch an die Grenze des Todes führen kann, werden uns in diesen Tagen viel deutlicher bewusst. Und leider gehört es auch zu unseren menschlichen Zügen, solche Themen zu verdrängen.

Künstliche Prioritäten wie der Bestand an Toilettenpapier oder eine trotzig zur Schau gestellte Sorglosigkeit im Umgang mit den öffentlichen Handlungsempfehlungen überspielen die bevorstehenden Szenarien, mit denen wir uns eigentlich schon heute auseinandersetzen müssen.

Ich bin seit drei Wochen in freiwilliger häuslicher Quarantäne. Zunächst bestand bei meiner Frau und mir der Verdacht einer Coronainfektion. Als das Testergebnis negativ ausfiel, wurde eine schwere bakterielle Infektion der Bronchien und des Lungengewebes diagnostiziert. Mindestens eine weitere Woche werde ich benötigen, um wieder vollständig zu genesen. Danach beginnt wieder der Arbeitsalltag und damit das Pendeln von Köln nach Bonn in häufig überfüllten Straßenbahnen. Die Gedanken kreisen um die Möglichkeit einer Coronainfektion – unter den Bedingungen der nun durchlittenen Vorerkrankung der Atemwege.

Was das bedeutet, welches Risiko das darstellt, ist mir als medizinischem Laien nicht vollumfänglich klar. Dass es keine optimalen Voraussetzungen sind, eine mögliche Coronainfektion glimpflich zu überstehen, ist anzunehmen. So trägt jeder von uns in seiner ganz persönlichen familiären Konstellation die Sorge um sich oder seine Liebsten im Herzen.

Darüber hinaus sind wir alle soziale Wesen. Als wir in unserer Alltagsgestaltung noch keinerlei Zwängen unterlagen, dominierte der soziale Individualist, ja vielleicht sogar der durch die Sozialen Medien hervorgelockte narzisstische Egoist in uns. Nun, da unsere konkreten, reellen sozialen Interaktionsmöglichkeiten limitiert sind, kommen gerade auch die emphatischen und fürsorglichen Saiten unserer Natur zum schwingen.

Wir machen uns Sorgen um unsere Nachbarn, organisieren Alltagshilfen oder fragen uns, wie wir unseren selbständigen Dienstleistern helfen können, die bislang mit ihren Unternehmen und Arbeitsleistungen einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung unseres persönlichen Alltages – zu dem, was wir Lebensqualität nennen – geleistet haben.

Welche Szenarien erwarten uns?

Neben diese Beobachtungen treten auch Gedanken über unsere kollektive Zukunft hinzu. Wie werden wir uns persönlich und als Gesellschaft weiterentwickeln, wenn unser Zusammenleben von intensiveren, dramatischeren Eindrücken geprägt sein wird? Und dazu wird es kommen.

Jeder Infizierte trägt dazu bei, dass sich zwei bis drei weitere Personen mit dem Virus anstecken. So kommt es alle drei bis vier Tage zu einer Verdoppelung der Zahl der Infizierten. Das Robert-Koch-Institut warnt davor, dass wir angesichts dieser Entwicklung in den nächsten zwei bis drei Monaten mit rund 10 Millionen Infizierten konfrontiert sein werden. Angesichts der sehr unterschiedlichen Todesrate in den verschiedenen Ländern muss man mit Sterbefällen im Rahmen von 100.000 bis vielleicht sogar zu 500.000 rechnen. Wie wird sich unsere Gesellschaft verändern, wenn diese Zahlen und statistischen Mutmaßungen sich als Realität im Alltag niederschlagen?

Und wie sehr ist unsere muslimisch Community auf diese Entwicklungen vorbereitet? Die rituelle muslimische Glaubensausübung ist geprägt von kollektiven Elementen. Das gemeinschaftliche Freitagsgebet ist ein zentrales Element dieser kollektiven Dimension des Gemeindelebens. Bereits jetzt haben sich die muslimischen Verbände sehr besonnen und verantwortungsvoll gezeigt und das kollektive Freitagsgebet ausgesetzt, um die Gefahr zusätzlicher Infektionen zu mindern.

Was wird aber passieren, wenn es angesichts von in kurzer Zeit zunehmenden Todesfällen auch in der muslimischen Community faktisch zu Zuständen kommt, in denen traditionelle Übungen und rituelle Bräuche tatsächlich nicht mehr praktiziert werden können?

Wir müssen uns darauf einstellen, dass es – solange die Infektionsgefahr noch akut ist – keine Totengebete in der bislang bekannten Form geben kann. Der gemeinschaftliche Abschied von den Verstorbenen, bislang ein Akt der Freisprechung von weltlicher, persönlicher Schuld, eine Herausstellung der Verstorbenen als wichtige Träger des sozialen muslimischen Gerüstes, wird wegfallen müssen. Hausbesuche im Anschluss an die Beisetzung, das sich Aushelfen mit Speisen, Gebeten, persönlichem Beistand bis tief in die Nacht und über mehrere Tage hinweg, die zu bestimmten Gedenktagen stattfindenden häuslichen Zusammenkünfte zur gemeinsamen Koranrezitation – all das wird vorübergehend nicht mehr möglich sein.

Das Bestattungswesen wird eine große Herausforderung darstellen

Und auch die sehr praktische und dringliche Frage der Bestattung wird uns vor neue, sehr große Herausforderungen stellen. Gegenwärtig werden etwa 90 % der türkeistämmigen muslimischen Verstorbenen zur Bestattung in die Türkei überführt. Hierzu haben sich Unterstützungsvereine gegründet, die ihren Mitgliedern im Gegenzug für regelmäßige Beitragszahlungen im Todesfall die Überführung und Bestattung des verstorbenen Mitglieds in der Türkei ermöglichen. Eine der größten muslimischen Bestatter ist der DITIB Zentrum für Soziale Unterstützung e.V. mit geschätzt etwa 5.000 Bestattungen / Überführungen jährlich.

Vor Kurzem hat die teilstaatliche türkische Fluggesellschaft Türkisch Airlines noch bekanntgegeben, dass ihr Frachtdienst Turkish Cargo keine Leichname in die Türkei überführen wird, bei denen eine Coronainfektion zum Tode geführt hat. Das heißt, dass zumindest türkeistämmige Muslime, die an einer Coronainfektion sterben werden, hier in Deutschland bestattet werden müssen. Die Nachrichtenlage hierzu ändert sich jedoch rasch. Aktuell heißt es aus der gleichen Quelle, dass auch bei Todesfällen, die auf eine Coronainfektion zurückzuführen sind, die Leichname unter Einhaltung aller hygienischen Maßnahmen in die Türkei überführt werden. Ob es auch bei steigenden Fallzahlen bei dieser Praxis bleiben wird, ist völlig offen.

Wir müssen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung auch mit einem deutlichen Anstieg von Todesfällen unter Muslimen rechnen, die von einer Coronainfektion betroffen waren. Niemand kann gegenwärtig voraussagen, mit welchem Ausmaß wir hier zu rechnen haben. Müssen wir nur mit einem geringen Anstieg der Sterbefälle unter Muslimen rechnen oder könnten wir auch von einem dramatischeren Szenario betroffen sein, bei der wir mit bis zu 25.000 an Coronainfektionen verstorbenen Muslimen in Deutschland konfrontiert werden?

Bei etwa 5 Millionen Muslimen in Deutschland und der Annahme, dass sich etwa die Hälfte davon infizieren wird, entspräche dies einer Sterberate von 1 %. Europaweit sind die Sterberaten teilweise niedriger, teilweise aber auch höher. In Italien liegt die Sterberate derzeit bei etwa 8 %, in Spanien bei etwa 5 % und in Frankreich bei etwa 3 %. In Deutschland hingegen bei deutlich unter 1 %. All diese Zahlen sind durch die absolute Zahl der getesteten Personen und der Dunkelziffer der unerkannt infizierten Verstorbenen verzerrt und lediglich eine Momentaufnahme. Eine verlässliche Prognose ist derzeit also kaum möglich, ein gravierendes Szenario aber ebenso nicht auszuschließen.

Wir werden vermutlich persönliche und institutionelle Überforderungen erleben

Werden die Kapazitäten der muslimischen Verbände ausreichen, allein die logistische Herausforderung des Totentransports und der Vorbereitung auf eine Bestattung zu bewältigen? Gibt es ausreichend viele Leichenwagen, um die Verstorbenen aus Krankenhäusern und Privatwohnungen abzuholen?

Der Beruf des muslimischen Bestatters ist kein anerkannter Ausbildungsberuf. Die Fahrer der Leichenwagen, die gleichzeitig den provisorischen Sarg mit dem Leichnam aufladen, bei den Standesämtern die notwendigen Sterbeurkunden einholen, den Leichnam in eine Moschee mit Waschräumen für Totenwaschungen befördern und anschließend auf den Friedhof fahren, sind in der Regel branchenfremde, erst im Laufe der beruflichen Praxis angelernte einfache Angestellte. Ist ihre seuchenhygienische Ausbildung und ihre seelsorgerische Begleitung hinreichend sichergestellt, damit sie die bevorstehende Belastung aushalten können?

Wird es auf den kommunalen Friedhöfen ausreichende Grabflächen für muslimische Bestattungen geben? Werden überhaupt rituelle Totenwaschungen und sarglose Bestattungen noch möglich sein oder sind die Körper der Verstorbenen auch über den Tod hinaus weiter infektiös? Kann es in einem solchen Fall überhaupt noch Erdbestattungen geben? Oder wird seuchenpolizeilich zwingend eine Feuerbestattung vorgenommen werden müssen? Was bedeutet das alles aus theologischer Sicht? Sind die Gemeindemitglieder auf diese möglichen Entwicklungen vorbereitet?

Selbst für den Fall all jener Sterbefälle ohne Coronainfektion wird eine Überführung in die Türkei gegenwärtig nur noch zentral über den Frankfurter Flughafen abgewickelt. Das bedeutet, dass die Leichname bundesweit abgeholt und nach Frankfurt gefahren werden. Der Leichenpass zur internationalen Überführung muss bei den zuständigen Standesämtern angefordert werden. Das dauert bereits im gegenwärtigen Normalfall zuweilen länger als nur einen Tag. Der Leichnam wird entweder am Sterbeort oder in Frankfurt rituell gewaschen und in Leichentücher eingehüllt werden müssen.

Angesichts der zentralen Abfertigung an nur einem Flughafen wird es zwingend zu Wartezeiten kommen. Der Sarg wird nicht durch einen Angehörigen begleitet werden können, da nur noch Frachtflugzeuge für die Überführung genutzt werden. Das bedeutet, dass in der Türkei der Sarg von Angehörigen abgeholt und in den jeweiligen Heimatort gefahren werden muss. Dort müssen ebenfalls alle erforderlichen Dokumente vorliegen, um letztendlich den Leichnam aus dem Sarg entnehmen und im Leichentuch erdbestatten zu können. Wohlgemerkt wird dies alles in den bevorstehenden Sommermonaten ablaufen – ohne eine durchgehende Kühlung der Leichname über den gesamten Transportweg hinweg.

Die Frage der Kühlkapazitäten wird auch für die Bestattungen in Deutschland relevant werden. Werden die Zahl des geistlichen Personales für die Totenwaschungen und die entsprechenden Räumlichkeiten ausreichen, um die Zahl der Verstorbenen angemessen schnell für die Bestattung vorzubereiten? In der Regel übernehmen die männlichen Teilnehmer der Trauergemeinde die Grabschließung auf dem Friedhof. Wenn öffentliche Zusammenkünfte aber weiterhin untersagt werden, muss das Friedhofspersonal die Grabschließung vornehmen. Werden die personellen Kapazitäten hierfür ausreichen?

Sozialbestattungen und Schutzmaßnahmen können religiösen Ritualen entgegenstehen

Was geschieht in den Fällen, wenn die Verstorbenen keine Nachkommen hinterlassen oder keine bestattungspflichtigen Personen ermittelt werden können? Sind die Verstorbenen vermögenslos, ist in solchen Fällen nur eine Sozialbestattung möglich. Die entsprechenden gesetzlichen Vorgaben sind in den Ländern uneinheitlich. Der haushaltsrechtliche Grundsatz der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit lässt in manchen Fällen nur eine Feuerbestattung als Sozialbestattung zu.

In anderen Fällen ist die Wahl zwischen einer Erdbestattung und einer Feuerbestattung als Sozialbestattung grundsätzlich möglich, wenn es eine Willensbekundung der Verstorbenen zu Lebzeiten gab, die erkennen lässt, in welcher – auch religiösen – Weise eine Bestattung gewünscht war. Fehlt eine solche Willensbekundung, ist damit zu rechnen, dass eine Feuerbestattung wahrscheinlicher wird. Als grundsätzlicher Maßstab für Sozialbestattungen ist der Grundsatz einer ortsüblichen und angemessen würdevollen Bestattung heranzuziehen. Das ist ein auslegungsbedürftiger Rechtsbegriff und es ist gegenwärtig völlig offen, wie in Krisenzeiten eine angemessene Auslegung mit Rücksicht auf die Gesundheit der Gesamtbevölkerung und des Bestattungspersonals aussehen wird.

Auf all diese Fragen hat momentan keiner von uns entsprechende Antworten. Die Verantwortung der muslimischen Verbände ist es, Antworten auf diese Fragen zu finden. Im Gespräch mit ihren Gemeinden, die sie auf all diese Widrigkeiten vorbereiten müssen. Aber auch und insbesondere mit den zuständigen kommunalen Behörden und auch den Landesregierungen. Es muss über praktische Lösungen nachgedacht werden, vielleicht über Anpassungen in den Bestattungsgesetzen oder in den entsprechenden Durchführungsverordnungen.

Dort, wo die Verbände erkennbare logistische Defizite haben und eine Aufstockung ihrer Kapazitäten kurzfristig nicht möglich ist, muss es einen Austausch mit den lokalen Bestattungseinrichtungen und Krankenhäusern geben. Mit den wissenschaftlichen Instituten muss rasch geklärt werden, welcher Erkenntnisstand zu der Infektionsgefahr durch Leichname momentan vorliegt und wie eine rituelle Totenwaschung konkret vollzogen wird, um etwaige kritische Praktiken rechtzeitig zu vermeiden.

Die hier angesprochenen Verantwortlichen auf Seiten der muslimischen Verbände mögen diesen Text nicht als Vorhalt oder Kritik an ihren Institutionen und Leistungen missverstehen. Ich habe lange Zeit sehr intensiven Einblick in die praktische Arbeit der muslimischen Verbände nehmen können, insbesondere auch in den Bereich der Bestattungsdienste. Ich kenne die dortigen Zustände und auch die Überforderungen, die es jetzt schon im „Normalbetrieb“ gibt.

Ich habe meine Mutter und meinen Vater in Deutschland zu Grabe getragen. Ich habe die Totenwaschung meines Vaters gemeinsam mit einem Imam vollzogen. Ich habe in meiner Zeit als Rechtsanwalt und anwaltlicher Betreuer mit den existenziellen Fragen bis zum Tod und über diese Grenze hinaus gerungen und dabei viele Erfahrungen gesammelt. Aus all diesen Eindrücken und Erfahrungen heraus ist dieser Text entstanden und er möge hoffentlich die muslimischen Verbände dazu motivieren, nun schnell und ohne falsche Scham vor eigenen Schwächen an Antworten zu arbeiten. Denn die Fragen werden kommen. Zwei bis drei Monate sind keine lange Zeit mehr. Auch wenn wir alle hoffen, vom Schlimmsten verschont zu werden, müssen muslimische Verbände auf die Möglichkeit eines Worts-Case-Szenarios vorbereitet sein.

Möge Allah uns allen beistehen, uns die Geduld geben, die Last der kommenden Tage zu schultern. Möge er uns die Kraft geben, auch einander beizustehen – nicht nur innerhalb unserer muslimischen Gemeinschaften, sondern insbesondere auch als gesamte Gesellschaft, egal ob, an was oder wie wir glauben.

Nachtrag:

Es kommt auch auf Details an. Ich schrieb, dass die Verbände den wissenschaftlichen Instituten konkret beschreiben müssen, wie eine Totenwaschung durchgeführt wird. Daran orientiert müssen sie sich beraten lassen. Bei der Waschung wird der Leichnam auf dem Waschtisch in sitzender Position aufgerichtet und der Bauch und die Brust mit kräftigen, massierenden Bewegungen eingeseift. Dies dient der Reinigung des Torsos aber insbesondere dazu, Reste von Exkrementen oder Ausfluss über den Enddarm und den Mund herauszuwaschen. Damit soll verhindert werden, dass es nach dem Einhüllen in die Leichentücher noch zu Ausfluss aus den Körperöffnungen kommt. Dabei wird aber auch Luft aus den Lungen herausgedrückt. Erste Meldungen deuten darauf hin, dass das Virus auch nach dem Tod mehrere Tage im Leichnam überlebt – insbesondere im Lungengewebe. Ich weiß nicht, wie gefestigt diese Annahmen sind. Aber hier steht die Gesundheit des religionsdienstlichen Personals und die der Angehörigen auf dem Spiel, die an der Totenwaschung helfend teilnehmen. Die Verbände müssen solche Details sorgfältig mit den medizinischen Experten klären.