Das Datum zum Auftakt der vierten Runde der Deutschen Islamkonferenz nähert sich. Gleichzeitig wächst die Unruhe in den Kreisen des institutionellen Islam in Deutschland. Die Verbände geben ein unübersichtliches Bild ab: Aus den Führungsebenen ist praktisch nichts zu hören oder zu lesen. Es gibt keine offiziellen Statements, denen man eine ausführliche Analyse und Bewertung der bevorstehenden Gespräche entnehmen könnte.
Aus der zweiten oder dritten Reihe des Verbandspersonals gab es vereinzelt Beiträge, die sich weniger durch gedankliche Stringenz, als durch die Sorge um die vermeintlich beabsichtigte staatliche Manipulation religiöser Dogmen auszeichneten.
Dieser Mangel an inhaltlicher Substanz wird gegenwärtig durch Beiträge aus der Türkei kompensiert, die sich an der Analyse des „deutschen Islam“ versuchen und dabei unbeabsichtigt aber sehr anschaulich herausarbeiten, wie das Denken in einer zunehmend autokratischen und pluralitätsfeindlichen und totalitären Gesellschaft funktioniert. Beispiele für diese Propagandaprosa sind an dieser Stelle in Blogbeiträgen bereits besprochen worden.
Das neueste Beispiel dieser Textgattung liefert der Hochschullehrer Prof. Dr. Özcan Hıdır von der Sabahattin Zaim Universität in Istanbul auf der Webseite der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı. Die IGMG-Verbandszeitschrift „perspektif“ zirkuliert den Beitrag über Social Media und stellt ihn auf die eigene Webseite.
Eine ausführliche Beschäftigung mit dem Text und den dortigen „Analysen“ ist entbehrlich. Er enthält nichts Neues. Das Ergebnis auch dieser „Analyse“ ist identisch mit dem Narrativ, das seit geraumer Zeit aus der Türkei, über die Kanäle der hiesigen Verbände in die Gemeindebasis gepumpt wird: Der „deutsche Islam“ sei ein Projekt des deutschen Staates mit dem Ziel, den Muslimen notfalls auch im Widerspruch zu ihren religiösen Überzeugungen „europäische Normen und Werte“ aufzuzwingen, sie durch diesen Zwang als Muslime unkenntlich zu machen, ihren Widerstandsgeist in Gestalt ihrer nationalen und religiösen Identität zu brechen, aufzulösen und sie somit zu zähmen.
Das angestrebte Ergebnis sei die völlige Unsichtbarkeit der Muslime als solche, ihre vollständige Säkularisierung. Natürlich sind all jene, die sich um ein Selbstverständnis als „deutsche Muslime“ einsetzen in dieser Denklogik nichts anderes als ebensolche „Projekte“ des deutschen Staates und damit Gegner aller aufrichtigen und rechtgläubigen Muslime.
Verbände akzeptieren Fernanalysen aus der Türkei
Das sind die Positionen, die sich die Verbände zu Eigen machen und nach innen zirkulieren. Nach außen wiederum setzen sie den Versuch fort, mit der deutschen Gesellschaft und Politik im Gespräch zu bleiben und den Willen zu positiver Gestaltung gesellschaftlicher Zustände zu signalisieren. Diese diametralen gedanklichen Positionierungen verursachen natürlich kognitive Dissonanzen und ganz praktische Widersprüche im öffentlichen Handeln der Verbandsvertreter.
Sie leben in einer gedanklichen und faktischen Zerrissenheit, die ihre Ursachen und Wurzeln in den politischen Umbrüchen in der Türkei haben. Deshalb darf es uns nicht verwundern, dass nun auch Journalisten und Professoren aus der Türkei faktisch für die Verbände in Deutschland sprechen und die Verbände diese Inhalte als fundierte Analysen ihrer hiesigen Zustände akzeptieren und es unterlassen, diesen fremdbestimmten Beschreibungen aus der Ferne zu widersprechen.
Denn im Lichte dieser Fernanalysen erscheinen das Handeln und die Niederlagen der hiesigen Verbandsvertreter wie der heldenhafte, tapfere Kampf gegen übermächtige staatliche „Projekte“. Die tatsächlichen Zustände und die eigene Verantwortung der Verbände und der türkischen Politik am Scheitern vergangener Entwicklungen bleiben damit im Dunkeln und werden dem kollektiven Vergessen überlassen.
Der türkische Professor weiß vermutlich nichts über die vielen Gutachten, in denen den Verbänden der Weg hin zur Klärung der verfassungsrechtlichen Statusfragen mit ganz eindeutigen und klaren gedanklichen Beschilderungen aufgezeigt worden sind. Den Verbänden sind die positiven Voraussetzungen und die prohibitiven Aspekte geradezu durchdekliniert worden. Sie haben sich aber unter dem Druck der Erwartungshaltung aus der Türkei an den entscheidenden Weggabelungen wie Armenierresolution, Aufarbeitung des Putschversuchs in der Türkei, Spionageorder an Diyanet-Imame dafür entschieden, nicht als Religionsgemeinschaften zu agieren, sondern als Vertreter ausländischer politischer Interessen.
Ideologische Schützenhilfe
Vor diesem Hintergrund macht es wenig Sinn und führt es auch kaum zu mehr Erkenntnisgewinn, sich mit den Inhalten der aus der Türkei nach Deutschland lancierten „Analysen“ zu beschäftigen. Viel sinnvoller ist es, sich mit den übergeordneten und damit sich in der gesamten Breite und Tiefe der aktuellen Diskussionen auswirkenden faktischen Zustände in der Türkei zu befassen.
Ein konzentrierter Blick auf diese Zustände verspricht auch mehr Klarheit bei der Betrachtung der Folgen und Nebenwirkungen, die durch diese Abhängigkeit von den Vorgaben der türkischen Regierungspolitik bei und in den Verbänden in Deutschland verursacht werden.
Nähern wir uns diesem Blick über einen kurzen Umweg an: Umberto Eco, der vielen als Autor des Romans „Der Name der Rose“ bekannt sein dürfte, hielt am 24.04.1995 an der New Yorker Columbia University eine Vorlesung zum 50. Jahrestag der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus. Er skizzierte darin Merkmale eines „Urfaschismus“ oder eines „ewigen Faschismus“. „Jedes einzelne von ihnen kann zum Kristallisationspunkt für den Faschismus werden“, so Eco.
Die von Eco beschriebenen Merkmale lassen sich auf die aktuellen Verhältnisse in der Türkei übertragen und machen durch diese intensive Beleuchtung auch jene Facetten sichtbar, die in unser deutsch-türkisches Zusammenleben hier in Deutschland hineinwirken. (Der ausführliche Text zu Ecos Vorlesung ist in der ZEIT Nr.28/1995 veröffentlicht worden – hier sollen nur die darin beschrieben Merkmale des Urfaschismus zitiert und näher betrachtet werden. Bei Eco sind es 14 Merkmale. Sie werden hier verkürzt dargestellt, mit einer Konzentration auf jene Merkmale, die für die deutsch-türkischen Verhältnisse besondere Relevanz haben.)
1. Das erste Merkmal ist der Traditionskult
Der Traditionalismus begreift überlieferte Tradition als Träger einer ursprünglichen Wahrheit. Diese mag fragmentiert und zersplitterte sein. Aber es sind eben jene Splitter der Weisheit, die auf diese ursprüngliche Wahrheit hinweisen. Die Tradition verhindert damit den Fortschritt der Erkenntnis. „Denn die Wahrheit ist ein für allemal verlautbart, und uns bleibt nur, ihre unverständliche Bedeutung zu interpretieren.“
In der heutigen Türkei lebt das Staatsoberhaupt diesen Traditionskult vor. Es unterhält eine Ehrengarde, die sich in Fantasiegewändern früherer Turkvölker kleidet. Es frönt einer absurden Abdülhamid-Verehrung, mit welcher stellvertretend auch eigene Ansprüche nach Alleinherrschaft legitimiert werden sollen. Es reproduziert historische Moscheebauten, die als Monumente des schlechten Geschmacks in Beton-Replika auf die Hügel Istanbuls gegossen werden. Es sind Akte der Beschwörung einer vergangenen Stärke und Machtstellung, die mittels Wiederbelebung traditionalistischer Fragmente – und damit dem Rekurs auf eine unveränderliche Wahrheit als Quelle dieser Macht – zu neuer, aktueller Geltung erhoben werden sollen. Osmanischer Kitsch ist also nicht nur eine anachronistische stilistische Geschmacksverirrung, sondern vielmehr die Beschwörung vergangener Bedeutung und Geltung.
2. Das zweite Merkmal: Traditionalismus impliziert die Ablehnung der Moderne
„Die Ablehnung der modernen Welt tarnt sich als Ablehnung der kapitalistischen Lebensweise“. Dem Traditionalisten gilt die Moderne, das mit ihr verbundene Zeitalter der Vernunft, „als Beginn moderner Entartung“.
Auch in der Türkei ist dieser Tarnversuch zu beobachten. Der Staatspräsident warnt stetig davor, nur die Technologie des Westens zu übernehmen, aber nicht „ihre moralischen Werte“. Es ist dieses Spannungsverhältnis, auf das sich auch die eingangs zitierte „Analyse“ des deutsch-türkischen Verhältnisses bezieht. Der vermeintliche Widerspruch zwischen den „Werten Deutschlands“ und der Existenz als Muslim wird als Widerspruch zwischen der traditionellen Wahrheit und der modernen, in erster Linie moralischen Entartung konstruiert. Dies erklärt, warum die ersten Reflexe zum Beispiel von IGMG-Funktionären auf den „deutschen Islam“ in der Empörung über eine vermeintliche „Absicht des deutschen Staates“ kulminierten, Muslimen Schweinefleisch und Alkohol schmackhaft machen zu wollen. Ein Mitarbeiter aus den Reihen des Ditib Verbandes dehnte seine Absichtsdeutung gar auf sexuelle Freizügigkeit und Promiskuität aus, die im Zuge eines „deutschen Islam“ wohl legitimiert werden sollen. Damit zeigt sich auch, was in diesen Kreisen unter „Moderne“ tatsächlich verstanden wird.
3. „Irrationalismus ist auch abhängig vom Kult der Aktion um der Aktion willen.“
„Eine in sich schöne Aktion muß vor dem Denken erfolgen oder ganz ohne Denken. Denken ist eine Form der Kastration. Daher wird Kultur verdächtig, sobald sie mit kritischen Einstellungen identifiziert wird. Mißtrauen gegenüber der Welt des Intellekts war immer ein Symptom des Urfaschismus.“
Besser kann man die Ereignisse rund um die Moscheeeröffnung in Köln, das zwanghafte Bestreben, jede kritische Wortmeldung in Gegenwart der personifizierten Macht zu verhindern, jeden kritischen Gedanken als Makel an der Schönheit der Inszenierung zu vermeiden, wohl kaum beschreiben.
4. Für den Urfaschismus ist fehlende Übereinstimmung Verrat
Mangelnde Übereinstimmung, Kritik, Widerspruch, Intervention sind nicht nützlich für die Bereicherung des Wissens, für die Vermeidung von Fehlern und für die Verbesserung der eigenen Arbeit. Sie sind nur Ausdruck der Illoyalität, der Versuch, Autorität infrage zu stellen. Kontroverse, der öffentliche Meinungsstreit sind nicht Mittel der Meinungsbildung im Wege des gesellschaftlichen Konsenses. Sie sind vielmehr Ausdruck von verheimlichten, verräterischen Absichten und ein Versuch, allein schon durch die Kontroverse den Geltungsanspruch des Gegenüber zu untergraben.
Deshalb kann Kritik am Herrscher in der heutigen Türkei schnell als Straftat gedeutet werden und Andersdenkende willkürlich hinter Gitter bringen.
Deshalb fühlen sich die Verbandsvertreter durch ein offenes Format der Deutschen Islamkonferenz nicht positiv herausgefordert, die eigene Position zu schärfen und in den Ring der öffentlichen Debatte zu werfen. Sie sehen darin nur eine Falle, einen Hinterhalt, aus dem heraus selbst grundsätzliche Elemente einer persönlichen religiösen Lebensführung zum Gegenstand staatlicher Bestimmung gemacht werden sollen. Damit werden aus Sicht der Verbände – verstärkt durch diese Deutung aus der Türkei – alle, die sich an einer öffentlichen Debatte über muslimische Beheimatung in Deutschland beteiligen möchten, zu Verrätern am Glauben selbst.
Und weil man hier nicht alle Meinungsgegner einfach wegsperren kann, zieht man sich zurück in die eigene geistige Isolationszelle und verstummt zu den gesellschaftlichen Debatten.
5. Der Urfaschismus beutet die Angst vor Unterschieden aus…
… und verschärft diese, um selbst zu wachsen und Unterstützung zu finden. Rassismus und gesellschaftliche Ausgrenzung des „Anderen“ sind damit seine Merkmale.
Die türkische Regierungspolitik unter der AKP hat sich permanent von dem Narrativ der Bedrohung durch den „Anderen“ genährt. Nachdem alle inneren „Feinde“, jegliche tatsächliche Opposition geschwächt und entmachtete wurde, brauchte es einen neuen „Anderen“ um die Spaltung der Gesellschaft und damit den Rückhalt in der eigenen Anhängerschaft zu stärken. Mal waren es frühere Verbündete, dann wieder „der Westen“. Die türkische Staatsspitze ist auf der ständigen Suche nach „dem Anderen“, der als Bedrohung inszeniert und dann durch die eigene Stärke überwunden wird.
Vor Ort in Deutschland sind es nun die „Anderen“, die aus den eigenen Reihen eliminiert werden und sich – natürlich wieder nur in feindlicher Absicht – plötzlich zu Themen äußern, die zwingend der Deutungsautorität der traditionell Mächtigen vorbehalten bleiben sollen.
6. Nationalismus und der Belagerungszustand
„Den Menschen, die sich einer ausgeprägten sozialen Identität beraubt fühlen, spricht der Urfaschismus als einziges Privileg das häufigste zu: im selben Land geboren zu sein. Dies ist der Ursprung des Nationalismus. Außerdem bezieht eine Nation ihre Identität nur aus ihren Feinden. Daher liegt an der Wurzel der urfaschistischen Psychologie die Obsession einer Verschwörung, am besten einer internationalen Verschwörung. Die Anhänger müssen sich belagert fühlen.“
Dies ist die exakte Beschreibung der Wagenburg-Mentalität, die sich die Verbände in den vergangenen Jahren immer intensiver zugelegt haben. Von außen wirkt die Bedrohung der vermeintlichen internationalen Verschwörung der europäischen Staaten, ihren jeweiligen „deutschen, englischen, belgischen, französischen Islam“ kreieren zu wollen. Von innen wirkt die Bedrohung der vermeintlichen Agenten und Verräter, die dieses „Projekt“ unterstützen. Überall nur Feinde.
Die Herausforderung für die türkische Politik besteht darin, die prägende Tatsache zu überwinden, dass die von ihr mit nationalistischen Narrativen angesprochenen Jugendlichen eben nicht in der Türkei, sondern in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Sie haben also eine Lebenswirklichkeit durchlaufen, die sie nicht permanent und ausschließlich als feindlich und bedrohlich erlebt haben. Deshalb investiert die türkische Regierung massiv in Reiseveranstaltungen, mit denen immer mehr junge Menschen aus Deutschland in die Türkei geholt werden und dort mittels „Kulturreisen“ einer Heimat näher gebracht werden, die sie als solche nur aus den Erzählungen der Eltern und Großeltern kennen.
Diese staatlichen Reiseprogramme werden mit „Fortbildungsveranstaltungen“ flankiert, in welchen Islamfeindlicheit und antimuslimischer Rassismus in Europa als einziger Bezugsrahmen für die europäische Existenz von Muslimen skizziert werden. Damit werden junge Menschen in der Mitte ihrer Persönlichkeitsentwicklung an eine Erzählung herangeführt, mit welcher die Türkei als einzige, Geborgenheit und Anerkennung gewährende Heimat und der europäische Lebensmittelpunkt als feindliche Umgebung konstruiert werden.
All das geschieht in einer Atmosphäre der Realitätsverdrängung. Die Apologeten dieser Politik beklagen eine deutsche Politik, die sich an der Sichtbarkeit der Muslime störe. Gleichzeitig organisieren sie eine Moscheeeröffnung, die live im deutschen Fernsehen übertragen wird und bei der die Organisatoren es sich als Erfolg an die Brust heften, die „größte Moschee Europas“ unter Ausschluss der Stadtgesellschaft, der Landespolitik und der unmittelbaren Nachbarschaft allein als türkische Regierungsveranstaltung auf quasi exterritorialem Gelände zelebriert zu haben.
7. Die Feinde des Urfaschismus sind übermächtig und schwach zugleich
Die eigene Anhängerschaft muss sich von der Macht der Feinde gedemütigt fühlen. Der Feind muss übermächtig erscheinen, damit der Einzelne sich in individueller Hilflosigkeit dem eigenen Führer anschließt und ihm die Treue hält. Aber gleichzeitig müssen die Anhänger auch davon überzeugt sein, die Feinde besiegen zu können. „Daher, durch ständige Verlagerung des rhetorischen Brennpunkts, sind die Feinde gleichzeitig zu stark und zu schwach. Faschistische Regierungen sind dazu verurteilt, Kriege zu verlieren, weil sie konstitutiv unfähig sind, die Stärke des Feindes richtig einzuschätzen.“
Die türkische Regierungspolitik ist ein Musterbeispiel für diese Mechanismen. Im eigenen Selbstverständnis umzingelt von der gesamten Welt als „Feinde der Türken“ aber gleichzeitig, Dank des Genies des eigenen Führers, in der Lage, es mit allen gleichzeitig aufzunehmen und stets siegreich aus allen Konflikten hervorzugehen. Im Konflikt mit Russland, mit den USA, mit Europa wiederholt sich immer wieder das gleiche Schauspiel. Die Türkei, die es mit Weltmächten aufnimmt, ihnen die Leviten liest, sie in ihre Schranken weist und die neue alte Macht der neo-osmanischen Türkei auf der ganzen Welt zur Geltung bringt.
Zugeständnisse und Niederlagen erscheinen nur den Wankelmütigen als solche. In Wirklichkeit sind das alles strategische Schachzüge des großen Meisters, deren wahre Bedeutung und Wirkung erst viel später oder für den nur beschränkt in die Hintergründe der Weltpolitik eingeweihten Normalbürger gar nicht sichtbar werden. Entscheidend ist das Vertrauen in den unfehlbaren Führer, der die Geschicke der Nation ganz allein durch die gefährlichen feindlichen Gewässer manövriert.
Auch im Kleinen wirken diese Mechanismen. Da sind die Verbände viel zu groß, als dass der deutsche Staat es wagen würde, gegen ihre Interessen zu agieren. Eine Mentalität des „Ohne uns können sie nicht!“ ist Ausdruck dieser Hybris. Gleichzeitig gibt es eine Selbstwahrnehmung der völligen Machtlosigkeit über das eigene Schicksal. Eigenes Handeln hat in dieser Wahrnehmung überhaupt keine Wirkung auf die gesellschaftliche Situation, in der man sich befindet. Man ist nur Spielball nationaler Machtinteressen, die auf oberster Ebene ausgehandelt werden müssen. Erst wenn sich die Mächtigen geeinigt haben und nach unten weitergeben, wie man sich zu verhalten hat, kann die Verbandsführung nach dieser Ansage handeln.
Diese Unfähigkeit, die eigene Situation richtig einschätzen zu können, führt dann zum Beispiel dazu, dass der ZMD und der Islamrat meinen, trotz aller anders lautenden Hinweise, eine unbesiegbare gerichtliche Position erlangt zu haben, aus der sie dann vor dem OVG Münster gegen jede juristische und faktische Realität agieren – und letztlich vollständig unterliegen.
8. „Im Urfaschismus gibt es keinen Kampf ums Überleben –
das Leben ist nur des Kampfes willen da. Pazifismus ist daher Kollaboration mit dem Feind. Er ist schlecht, weil das Leben ein ständiger Kampf ist.“
Opferbereitschaft, Märtyrertod, Militarismus, Wehrhaftigkeit, Kriegslust sind Elemente der türkischen Regierungspolitik zur Mobilisierung und Lenkung der Massen. Die Auswirkungen eines nationalistischen Militarismus, dem sich in der Türkei auch die Religion mit ihren Symbolen und Akteuren unterwerfen muss, erleben wir auch in Deutschland. Kinder in Militäruniformen, die den Heldentod nachspielen, Religionsbeamte, die sich in martialischer Kriegsrhetorik überbieten, sind nicht das Resultat von Geschmacksverirrungen oder individuellen Fehlleistungen einzelner Ehrenamtlicher, sondern ein Zeichen dafür, dass die oben gepredigte Ideologie nun auch unten an der Basis zu wirken beginnt.
9. „Elitedenken ist ein typischer Aspekt jeder reaktionären Ideologie“
„Jeder Bürger gehört dem besten Volke der Welt an, die besten Bürger sind die Mitglieder der Partei, jeder Bürger kann (oder sollte) der Partei beitreten.“ Dem Führer ist aber klar, „daß seine Kraft in der Schwäche der Massen wurzelt; sie sind so schwach, daß sie einen Führer brauchen und verdienen.“ Dieses Elitedenken hat aber auch eine „grausame Verachtung des Schwächeren im Gefolge“. Da die Gruppe hierarchisch organisiert ist, verachtete jeder Unterführer seine Untergebenen, und jeder von diesen verachtete die ihm Untergebenen. Das verstärkt das massenhafte Elitebewußtsein.“
Dieses Bewusstsein lässt keinen Raum für Prinzipien der Demokratie, insbesondere der demokratischen Entscheidungsfindung. Das Wohl der Gruppe wird nicht durch die Auseinandersetzung unterschiedlicher Meinungen und Ansichten ausgehandelt und mehrheitlich bestimmt. Der Führer oder die von ihm legitimierten Unterführer wissen am besten, was der Gruppe nützt. Ihr Wille setzt sich an Stelle des Rechts. Recht ist dann, was dem Willen der Elite nützt. Die Türkei versteht sich in diesem Sinne immer noch als Rechtsstaat.
Wem es gelingt, in die als demokratisch deklarierten Gremien und Organe der Verbände zu blicken und die dortigen Entscheidungsprozesse nachzuvollziehen, wird erkennen, welchem Geist die dortigen Praktiken folgen.
Wer in einem solchen geistigen Umfeld geprägt wird, schließt leicht von sich auf andere Zustände. Deshalb erscheint den Verbänden das Ergebnis eines bevorstehenden Diskurses über das Verständnis, deutsche Muslime zu sein, bereits durch eine von staatlicher Obrigkeit vorweggenommene Entscheidung festzustehen. Sie misstrauen den Prozessen eines offenen Meinungsstreits, weil sie es gewohnt sind, einen solchen nur durch den Einfluss staatlicher Eliten gelenkt zu erleben.
Ihnen fehlt die Erfahrung, aus einer Minderheitenposition heraus mehrheitliche Entscheidungen im eigenen Interesse überzeugend, nicht überwältigend, beeinflusst zu haben. Denn eine Argumentation gegen staatliche Eliten können sie aus dem eigenen Erfahrungshorizont betrachtet, niemals gewinnen. Wer gegen die Obrigkeit argumentiert, legt fehlende Übereinstimmung an den Tag, also Verrat. Das heißt, wer bis jetzt seinen Funktionärsposten „erfolgreich“ behauptet hat, war sich seiner hierarchischen Schwäche stets bewusst und hat deshalb niemals wirklich opponiert.
10. Heldentum und Heldentod
„In jeder Mythologie ist der Held ein außergewöhnliches Wesen, aber in der urfaschistischen Ideologie ist Heldentum die Norm. Dieser Kult des Heldentums hängt aufs engste mit dem Todeskult zusammen.“ „In nichtfaschistischen Gesellschaften gilt der Tod als eine unangenehme Erscheinung, der man mit Würde begegnen soll; dem Gläubigen ist er der schmerzhafte Weg zu jenseitigem Glück. Im Gegensatz dazu sucht der urfaschistische Held den heroischen Tod als beste Belohnung für ein heldisches Leben. Der urfaschistische Held erwartet den Tod mit Ungeduld. In seiner Ungeduld schickt er allerdings gern andere in den Tod.“
„Bedel ödemek“ ist eines der häufigsten rhetorischen Figuren in der türkischen Regierungspropaganda. Sie wird in unzähligen pseudohistorischen Fernsehserien und im Jargon der jungen Anhänger der Regierungspolitik geradezu inflationär gebraucht. Wörtlich bedeutet „bedel ödemek“, einen Preis zu bezahlen. Im übertragenden Sinn ist gemeint, für Nation, Volk und Fahne bis zum äußersten opferbereit zu sein, also jeden, auch den ultimativen Preis zu bezahlen. Oder die „Feinde“ für ihren Verrat diesen Preis bezahlen zu lassen.
In diversen Postings auf Facebook oder Twitter bekunden junge Muslime, die Erben von Vorfahren zu sein, die bereit waren, ihren Preis zu bezahlen. Und sie betonen, auch selbst dazu bereit zu sein. In den Führungshierarchien der Verbände erfüllt ein solcher Heldengesang gleich mehrfache Funktionen. Er vermittelt eine vermeintliche Kongruenz zwischen den Interessen der Basis und der Verbandsführung.
Gleichzeitig neutralisiert er die Frage nach Konsequenzen bei Fehlverhalten und Fehlern zu Lasten der Basis. Denn wer im angesichts des übermächtigen Feindes permanent zum Heldentod bereit ist, der kann sich nicht auch noch mit kleingeistigen Forderungen nach der Bezahlung eines geringeren Preises, wie zum Beispiel eines Rücktritts von Führungsämtern, aufhalten.
11. Qualitativer Populismus
„In einer Demokratie haben die Bürger individuelle Rechte, aber in ihrer Gesamtheit besitzen sie politischen Einfluß nur unter einem quantitativen Gesichtspunkt – man folgt den Entscheidungen der Mehrheit. Für den Urfaschismus haben jedoch Individuen als Individuen keinerlei Rechte, das Volk dagegen wird als eine Qualität begriffen, als monolithische Einheit, die den Willen aller zum Ausdruck bringt. Da eine große Menschenmenge keinen gemeinsamen Willen besitzen kann, präsentiert sich der Führer als Deuter. Da sie ihre Delegationsmacht verloren haben, handeln die Bürger nicht mehr; sie werden lediglich zusammengerufen, um die Rolle des Volkes zu spielen. Daher ist das Volk nichts als eine theatralische Fiktion.“ „In der Zukunft erwartet uns ein TV- oder Internet-Populismus, in dem die emotionale Reaktion einer ausgewählten Gruppe von Bürgern als Stimme des Volkes dargestellt und akzeptiert werden kann.“
Eine weitere beliebte rhetorische Figur der türkischen Staatsspitze ist die Formulierung „benim milletim“. Die Anrufung „meines Volkes“ erfüllt mehrere Funktionen. Sie festigt den possessiven Anspruch des Führers, auf die Deutungshoheit über den Willen „seines Volkes“. Damit wird der personale Führungsanspruch bekräftigt. Gleichzeitig wird das Reden und Handeln des Führers zur Aktion der Masse. Es ebnet dem Einzelnen durch individuelle Identifikation mit dem Führer, den Weg zu einer imaginierten Selbstermächtigung.
Der türkischen Staatsführung dient dieses Instrument dazu, die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland dauerhaft als politische Verfügungsmasse im eigenen Interesse mobilisieren zu können. Die Moscheeeröffnung in Köln sollte auch dies demonstrieren: „Ich mag zwar nur in Ankara uneingeschränkt herrschen können, aber ich kann, auf einen Fingerzeig hin mit meinen Massen eure Großstädte lahm legen. Wenn ich nur will und wann ich nur will.“
Weshalb verfängt diese Strategie? Viele Türkeistämmige fühlen sich durch die Debatten der vergangenen Jahre und den durch diese Debatten gefestigten Mechanismen des Alltagsrassismus zunehmend nicht als Individuen wahrgenommen. Sie fühlen sich als Gegenstand der Debatte, als Objekte der Betrachtung und damit daran gehindert, als Subjekte die Bedingungen ihres Zusammenlebens in Deutschland mitgestalten zu können.
In diese Gefühlswelt hinein bietet die türkische Regierung ein „größeres Subjekt“ an, mit welchem sich die Menschen identifizieren können. Dieses größere Subjekt ist die türkische Nation und ihre vermeintliche Personifizierung durch Erdoğan selbst. Seine Machtdemonstrationen werden umgedeutet zu persönlicher Subjektwerdung, zu eigener Dominanz im gesellschaftlichen Diskurs. Durch ihn fühlen sich seine Anhänger plötzlich gehört und gesehen. Wenn er spricht, sprechen sie. Wenn er poltert, poltern sie. Wenn er tadelt, befreit es sie von ihrer Frustration. Es ist nur eine imaginierte Potenz und Kompetenz als Subjekt. Aber auch das ist schon mehr, als ihnen der Alltag in Deutschland an Möglichkeiten bietet, wahrgenommen zu werden.
Dieses Gefühl ist offensichtlich so befriedigend, dass es die Betroffenen darüber hinwegtäuscht, dass sie auch in Erdoğans Strategie nichts anderes als Verfügungsmasse, also Objekt türkischer Regierungsinteressen sind.
Kein Grund zur Überheblichkeit
Diese Analyse soll nicht verdecken, dass hier nicht exklusiv „türkisch-muslimische“ Phänomene beschrieben werden. Die Anfälligkeit für urfaschistische Entwicklungen ist in jeder Gesellschaft vorhanden. Gerade in unserer deutschen Gesellschaft dürfen wir nicht annehmen, die Erfahrungen der NS-Diktatur hätten uns gegen den Rückfall in faschistische Entwicklungen immunisiert. Für eurozentristische Überlegenheitsgefühle ist bei diesem Thema also überhaupt kein Platz.
Gleichwohl soll durch den vorstehenden Text verdeutlicht werden, welche Einflüsse die türkische Regierungspolitik auf unser gesellschaftliches Zusammenleben hier in Deutschland hat und welche Veränderungen sie bei den verbandlich organisierten Akteuren verursacht. Ein klarer Blick auf diese Rahmenbedingungen unseres gesellschaftspolitischen Miteinanders kann dabei behilflich sein, Phänomene und strukturelle Entwicklungen akkurater einzuordnen und sie in einem größeren Zusammenhang zu betrachten.
Die Verbände entscheiden über ihre Zukunft
Für die Verbände bedeuten diese Entwicklungen eine richtungsweisende Herausforderung. Können sie sich überhaupt noch für einen Weg der Eigenständigkeit und der Selbstbestimmung entscheiden und damit Relevanz für die gesellschaftlichen Debatten in Deutschland reklamieren? Oder bleiben sie in ihrer aktuellen Rolle der gesellschaftlich stummen Moscheegebäudeverwalter, die ohne Vorgaben aus dem Ausland noch nicht einmal darüber entscheiden dürfen, wen sie als Gast bei der Eröffnung ihres Gebetshauses reden lassen?
Vielleicht gibt diese Außenwahrnehmung den inneren Zustand nicht korrekt wieder? Den Verbänden sollte aber klar sein, dass es genau dieses Bild ist, das sie momentan in die Gesellschaft vermitteln. Dazu brauchte es keine „Projekte“, keine Agenten und keine Verräter. Das haben sie ganz allein geschafft.
Und wenn die türkische Regierung glaubt, die zunehmende Abwendung der Jugend vom rituellen Islam und gemeinschaftlich organisierter Religionsausübung seien Folgen eines antimuslimischen Masterplans und von „Projekten“ europäischer Regierungen, sei sie daran erinnert, dass die gleichen Entwicklungen der Säkularisierung gerade auch unter der jungen Bevölkerung in der Türkei zu beobachten sind. Die Ursachen hierfür liegen in den praktischen Erfahrungen, die junge Menschen mit staatlichen oder verbandlichen Herrschaftsstrukturen machen, die für sich den Anspruch des authentisch Islamischen erheben. Mit den Erfahrungen eines solchen Islams wollen die Betroffenen offensichtlich immer weniger zu tun haben.
Die entscheidende Frage ist jetzt: Wollen die Verbände Akteure werden, die sich für die gesamte Gesellschaft in Deutschland engagieren und denen vor allen anderen Interessen das Wohl ihrer Mitglieder und der hiesigen Gesellschaft am Herzen liegt? Dann müssen sie deutlich und ausführlich formulieren, wie sie sich eine Veränderung hin zu einer solchen Organisation konkret vorstellen und welche Schritte sie dabei unternehmen werden.
Oder aber, sie fühlen sich in ihrer gegenwärtigen Rolle wohl und wollen ausdrücklich die Auslandsfilialen türkischer Regierungsinteressen im Gewand religiöser Vereine bleiben. Dann können sie weiter stumm verharren und kommentarlos mitansehen, wie türkische „Think Tanks“ und Universitätsprofessoren weiter mit den Mitteln der Verzerrung und Fehldeutung, bis hin zu Denunziationen und Ächtung gesellschaftliche Spaltung in Deutschland vorantreiben. Denn mit ihrer Passivität, die nichts anderes darstellt als schweigende Zustimmung, stehen sie momentan deutlich im demokratischen Abseits.
Oder, um es mit den Worten Ecos zu sagen: „Freiheit und Befreiung sind eine niemals endende Aufgabe“.