Nicht mein Held

Ich habe mich bereits gestern, vor dem letzten Teil der Rücktritts-Trilogie, zu Mesut Özils Erklärung kritisch geäußert. Meine Enttäuschung und Kritik an seiner Entscheidung, wie auch ihrer Begründung sind auch jetzt nicht schwächer sondern eher stärker geworden. Dies insbesondere auch vor dem Hintergrund des Überschwangs und der Lobeshymnen, mit denen seine Erklärung bei vielen Türkeistämmigen aufgenommen wird. Euphorische Fraternisierung („mein Bruder“) und ekstatische Heroisierung („eine Legende“, „endlich Rückgrat gezeigt“) überschlagen sich in den sozialen Medien. Ich kann diese Haltung nicht nachvollziehen. Ich kann in der Erklärung und Haltung Özils keinen Vorbildcharakter erkennen.

Ich sehe sehr wohl, dass die Kritik an den Erdoğan-Fotos dazu missbraucht wurde, rassistische Anfeindung und willkürlichen Zugehörigkeitsentzug zu betreiben. Deshalb ist es sinnvoll, diese Sachverhalte voneinander zu trennen, um deutlich zu machen, warum Mesut Özil – jedenfalls für mich – nicht zum antirassistischen Vorkämpfer taugt.

Zwei ganz unterschiedliche Herzen

Zwei Herzen schlagen in Mesut Özils Brust. Ein deutsches und ein türkisches Herz. Das türkische Herz ist so übervoll von Respekt für den türkischen Staat und seine Ämter, dass es Mesut Özil egal ist, was im Namen dieses Staates und in der Ausübung dieser Ämter passiert. Selbst wenn es Unrecht ist, selbst wenn es tausende türkische Herzen willkürlich ausgrenzt, anfeindet, entrechtet und ihnen die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der türkischen Bürger entzieht.

Dennoch hat Mesut Özil in diesem türkischen Herzen nur Respekt für die höchsten Ämter des türkischen Staates. Für ein Gefühl für die anderen, gebrochenen türkischen Herzen, ist da kein Platz mehr.

All die Ungerechtigkeit, die er später beklagt, all die Anfeindung und Ausgrenzung, gegen die er sich wendet, von denen er genug hat, kann er hier, kann er bei diesem Präsidenten ausblenden – weil er von ihnen nicht betroffen ist. Bei seinem anderen (DFB-)Präsidenten will er das nicht – denn dieses Unrecht erlebt er als eines, das ihn persönlich betrifft. In einem solchen türkischen Herzen, das nur für sich selbst schlägt, kann ich nichts Heroisches erkennen.

Schuld am Rassismus sind die Rassisten

Ziehen wir an dieser Stelle eine deutliche Grenze. Denn die Beschaffenheit seines türkischen Herzens rechtfertigt nicht, Mesut Özil rassistisch anzufeinden, auszugrenzen und zum Alleinverantwortlichen für das WM-Ausscheiden zu erklären. Er ist wegen der Erdoğan-Fotos nicht selbst schuld, dass er zum Ziel einer rassistischen Medienhetze geworden ist. Das Bild des unfähigen, lustlosen Türken als Symbol für eine deutsche Niederlage, hat nicht er gezeichnet. Für diesen Rassismus, für diese neuen Dolchstoß-Legenden sind wir gesellschaftlich verantwortlich.

Betrachten wir ausschließlich die zweite Hälfte seiner Erklärung. Sie enttäuscht mich. Was ist das für ein deutsches oder türkisches oder deutsch-türkisches Herz, das er da sprechen lässt? Er betont, dass das Verhalten des DFB-Präsidenten Grindel einer der wichtigsten Gründe sei, warum er das Trikot der deutschen Nationalmannschaft nicht mehr tragen will. Er zitiert ausdrücklich Äußerungen Grindels, die er als Ausdruck der Ablehnung einer kulturell vielfältigen Nationalmannschaft wertet. Genug sei genug.

Aber die Äußerungen Grindels datieren vor seiner Zeit als DFB-Präsident. Sie wurden, als Grindel ins Präsidium des DFB aufgenommen wurde, auch in der Presse problematisiert. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Mesut Özil in den letzten zwei Jahren diese kritischen Äußerungen problematisiert hätte. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er seine Zukunft in der deutschen Nationalmannschaft davon abhängig gemacht hätte, wie Grindel diese Äußerungen nun in seinem neuen Amt einordnet oder kommentiert.

Kämpfer nur in eigener Sache

Für Mesut Özil war es erst dann genug, als sich die ausgrenzenden Narrative gegen ihn persönlich gerichtet haben. Unerträglich und inakzeptabel wurden rassistische Ausgrenzungen für ihn erst jetzt, als er selbst betroffen war. Und auch da noch hat es Mesut Özil vorgezogen, den Verlauf der WM abzuwarten. Vor der WM war es für ihn noch nicht genug.

Er sah für sich vielleicht auch die Möglichkeit, seine Kritiker durch sportliche Leistungen zum Verstummen zu bringen. Aber damit bestätigt er doch nur wieder das, was er nun kritisiert: Im Erfolg als Deutscher, in der Niederlage aber nur als Migrant gesehen zu werden. Statt diese Denkweise ausdrücklich vor der WM anzusprechen und damit zu entlarven, hat er es vorgezogen, sie als Gelegenheit nicht ungenutzt zu lassen. Erst im Scheitern hat er sich an diesen Doppelstandards gestört.

Genug ist genug? Mesut Özil erklärt, er wolle im Angesicht des erlebten Rassismus nicht mehr untätig bleiben, sich nicht mehr einfach nur zurücklehnen. Aber genau das hat er doch getan. All die Jahre seines Erfolges hindurch. Und auch die letzten zwei Jahre unter Grindel – auch die hat er schweigend und ausdrücklich auch bei diesem Thema zurückgelehnt verbracht.

„Best Never Rest“ ist das Motto der Nationalmannschaft, die Stimme des Herzens als Nationalspieler. Mesut Özil entscheidet sich mit diesem Schritt des Rücktritts aber gerade dafür, nicht zu handeln. Er verabschiedet sich aus dem Konflikt, indem er sagt, es sei ihm genug, er stehe nicht mehr als Sündenbock zur Verfügung. Diesen Luxus haben wir alle, die dem gleichen Rassismus, der gleichen Anfeindung, der gleichen Ausgrenzung ausgesetzt sind, nicht. Wir müssen ihn länger aushalten, als nur zwei Monate vor und während einer Fußball-WM. Ganz ohne Sponsoren, Berater und ökonomischer Sicherheit. Für wen schlägt dieses Herz, für wen trug Mesut Özil all die Jahre das deutsche Trikot? Wir wollten glauben, für viel und viele mehr als nur für sich selbst.

Helden handeln anders

Mesut Özils Erklärung ist kein Manifest gegen den Rassismus, keine Kampfansage gegen die Diskriminierung in unserer Gesellschaft. Sie ist nicht die stolze Geste von Tommie Smith und John Carlos bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexico-City. Sie ist nicht das Symbol der Beharrlichkeit und der Standhaftigkeit, die mit der Rückennummer 42 eines Jackie Robinson in Erinnerung bleibt. Sie ist nichtmal der stille Kniefall eines Colin Kaepernick.

Mesut Özils Erklärung ist eine Beschwerdenotiz am Tag des Hotel Check-outs. Eine finale Geste des Rückzuges aus einem Konflikt, ohne ihn überhaupt wirklich ausgetragen zu haben. Als dieser Konflikt sich abzeichnete, zog er es vor, zu schweigen. Als er im Gange war, zog er es vor, zu schweigen. Jetzt, wo er die Chance gehabt hätte, nach dem Hinweis auf den erlebten Rassismus die Zukunft der Nationalmannschaft und die des DFB-Führungskaders zur gesellschaftlichen Diskussion zu stellen, die Entscheidung über seine Person als Gradmesser für die Sensibilität gegen Rassismus in unserer Gesellschaft wirken zu lassen, also endlich aktiv in diesen Streit einzusteigen – da beendet er den Konflikt für sich, indem er sich von ihm abwendet.

All jenen, die ihn den Rassisten zum Fraß vorgeworfen haben, will er kein Brocken mehr im Halse sein. Nein, er stellt ihnen jetzt die Zahnstocher hin und verlässt den Saal. Das ist kein Aufbegehren, das ist wieder nur ein Sich-Zurücklehnen. Er sagt in Wirklichkeit eben nicht: „Genug ist genug!“. Er sagt nur: „Mir ist es genug.“.

Seine Erklärung wirkt wie die triumphale Geste des „Mic Drop“, die für viele Beobachter, die ihm jetzt zujubeln, cool und sympathisch erscheinen mag. Er habe damit all jenen eine Stimme verliehen, die in unserer Gesellschaft Rassismus erlebten, heißt es. Nur frage ich mich, was diese Stimme jetzt eigentlich sagt, außer zu erklären, nichts mehr sagen zu wollen?

Mesut Özils Erklärung ist die Entscheidung und die Ankündigung, letztlich sprachlos bleiben zu wollen. Es ist eine letzte Geste der endgültigen Diskursverweigerung. Die Entscheidung, in einem selbstinszenierten finalen Akt, mit dem letzten Wort, mit der letzten Äußerung von der Bühne zu gehen. Wir aber stehen weiterhin dort und müssen diesen Konflikt gegen Rassismus tagtäglich austragen. Mesut Özil hat sich dafür entschieden, uns dabei nicht zu unterstützen. Er hat genug davon.

Feierstimmung im identitären Lager

Es lohnt sich, genau hinzusehen, wer ihm für diese Entscheidung am lautesten zujubelt. Er ist der Held all jener, die diese finale Abwendung von unserer Gesellschaft innerlich bereits vollzogen haben oder zukünftig als Option begreifen. Er ist das Symbol der inneren Abkehr, der geistigen Auswanderung, selbst jener, die äußerlich zu den Privilegierten in unserer Gesellschaft, zu den Aufsteigern gehören. Er ist jetzt der Held der türkischen Identitären, die schon immer wussten, dass man in dieser Gesellschaft immer nur Türke bleiben kann und somit auch bleiben muss.

Ihr Herz schlägt jetzt im Gleichtakt. Auch sie verweigern sich dem Konflikt. Sie benutzen die Utopie einer vollständig von Rassismus befreiten Gesellschaft, die Erwartung auch von jedem einzelnen Bürger vollständig akzeptiert zu werden, als Ausrede für die Abwendung von unserer Gesellschaft.

Die Illusion von einer konfliktfreien Gesellschaft, von einer ohne Mühe und Anstrengung errungenen Akzeptanz missbrauchen sie als Ausrede, sich dieser Gesellschaft zu verweigern. Es sind jene, die an eine exklusive und einzig mögliche, durch die Herkunft vorgegebene Zugehörigkeit glauben und denen jeder als Heldenfigur willkommen ist, der von der Möglichkeit, zwei Herzen zu haben, zurücktritt.

Mesut Özil – sollte er diesen Eindruck nicht durch starke Signale wieder korrigieren – hat sich dafür entschieden, im identitären Lager gefeiert zu werden, statt den Kampf der Demokraten gegen Rassismus in der deutschen Gesellschaft prominent zu unterstützen.

„I‘m out!“ war nicht die Ansage, die ich von einem Mann mit zwei Herzen im Kampf gegen Rassismus erwartet hätte. Und ich weiß ehrlich nicht, was ich daran feiern soll.