Die Islamdebatte in Deutschland befindet sich in einer Sackgasse. Es handelt sich hierbei um eine tatsächliche und geistige Verengung, deren inhaltliche Fruchtlosigkeit kaum auffällt, weil dieser Umstand durch eine konfrontative Sprache der Abgrenzung zwischen vermeintlich „liberal“ und vermeintlich „konservativ“ übertönt wird.
Die völlige Sprachlosigkeit der etablierten muslimischen Verbände trifft auf die schrille Kakophonie einer „Reformbewegung“, deren innere Widersprüchlichkeit kaum mehr zu verbergen ist – und die sich nur noch mit Performancekunst bei der Erstürmung von Moscheezäunen in Szene setzen kann.
Von den gleichen Akteuren, die diesen geistigen Stillstand und die inhaltliche Anspruchslosigkeit des gegenwärtigen muslimischen Denkens in Deutschland verursacht, ja verschuldet haben, können keine neuen, belebenden Impulse für die Islamdebatte erwartet werden.
Die „Konservativen“
Eine kritische Bestandsaufnahme macht ganz deutlich, was nicht mehr zu leugnen ist:
Die etablierten muslimischen Verbände haben zu der Frage, wie unser multireligiöses gesellschaftliches Zusammenleben in Zukunft aussehen soll, inhaltlich nichts beizutragen. Dieser Zustand ist selbst gewählt. Die Verbände haben sich in der Rolle des Fremden eingerichtet. Gerade diese Eigenschaft der Fremdheit wollen sie konservieren. Es geht ihnen in erster Linie darum, eine kulturelle und nationale Identität zu bewahren. Das ist eine legitime Entscheidung. Eine zulässige Priorisierung kollektiven Engagements. Ob sie den Bedürfnissen der Basis entspricht, sich mit der Lebenswirklichkeit der eigenen Mitglieder vereinbaren lässt, ist gewiss eine andere Frage.
Jede inhaltliche, strukturelle Maßnahme und Entscheidung, jede personelle Ausrichtung der Verbände macht deutlich, dass sie sich als eine Diasporagemeinschaft verstehen. Als eine durch klare Grenzen von der sie umgebenden Gesellschaft abgeschlossene religiöse und kulturelle Gemeinschaft von Fremden.
Die Aufrechterhaltung dieser Prädisposition gelingt jedoch immer häufiger nur noch durch die Konstruktion einer fremden Identität. Das heißt, die Gemeinsamkeiten und Schnittmengen mit der deutschen Gesellschaft müssen durch aktive Prozesse reduziert oder negiert werden, um die eigenen identitären Narrative zu stützen. Denn insbesondere den jüngeren Gemeindemitgliedern wird klar, dass die Ausrichtung auf dieses verbandliche Angebot von religiös-kultureller Fremdbeheimatung voraussetzt, sich einer Heimatfindung in Deutschland zu verschließen.
Der Preis gesellschaftlicher Selbstisolation ist hoch. Er manifestiert sich in einem Scheitern innerhalb dieser Gesellschaft. Das ist im Zweifel auch den Verbänden bewusst. Um dennoch die Attraktivität des eigenen Angebots zu steigern, bleibt nur das Instrument der Überhöhung. Dabei ist das einfachste und bequemste Mittel der Selbstüberhöhung natürlich die Abwertung des Anderen.
Die eigene religiös-kulturelle Diaspora muss als die qualitativ, ethisch-moralisch und als in jeder denkbaren Hinsicht der Beheimatung in der deutschen Gesellschaft vorzugswürdigere Lebensentscheidung dargestellt werden. Spiegelbildlich wird jede Entscheidung in die andere Richtung als Verrat an der eigenen Gemeinschaft markiert.
So wird auch das Scheitern innerhalb der deutschen Gesellschaft – manifest auch in dem Scheitern der Verbände, sich als gesellschaftlich wirkmächtige Organisationen zu etablieren und den öffentlichen Diskurs aktiv zu bestimmen – nicht als Folge einer eigenen Wahl, eines eigenen Handelns begriffen, sondern immer nur als Folge einer ohnmächtig erduldeten Diskriminierung und Herabwürdigung durch die deutsche Gesellschaft empfunden.
Eine solche Haltung konterkariert natürlich den religiösen Anspruch, im Besitz einer Offenbarung zu sein, welche die Qualität impliziert, Segen für und Botschaft an die ganze Welt zu sein. Es müsste unter diesen Voraussetzungen doch ein Leichtes sein, mit der eigenen universellen Botschaft lokale Missstände zu überwinden und zum Wohl der gesamten Gemeinschaft zu agieren. Das will aber nicht gelingen. Es gelingt den Verbänden nicht, religiös fundierte Perspektiven zur Lösung gesellschaftlicher Probleme zu formulieren. Dies würde nämlich voraussetzen, dass gesellschaftliche Zustände als eigene Probleme verstanden werden. Diesem Verständnis steht aber die Selbstwahrnehmung als Fremde im Weg.
Die Konsequenz für die Verbände liegt auf der Hand. Sie wenden sich den Problemen der als eigentliche und ausschließliche Heimat verstandenen Herkunftsländer zu, entwickeln hierzu Positionen und entfalten lediglich insoweit ernsthaftes Engagement. Somit zementiert sich ein Profilwandel der Verbände. Ihr organisatorischer Charakter entfernt sich vom Bild einer Religionsgemeinschaft mit Sensibilität für die Zustände ihres Lebensortes, entfernt sich vom Bild unverzichtbarer Akteure gesellschaftlicher Reflexion.
Sie werden vielmehr zu Orten der geistigen Erstarrung, in denen ein ganz bestimmtes, klar umrissenes kulturelles und nationales Selbstverständnis bewahrt und geradezu eingefroren werden soll. Religion ist innerhalb eines solchen Selbstverständnisses niemals Quelle eines skeptischen, hinterfragenden oder ethischen Korrektivs.
Religion wird an solchen Orten nicht „gedacht“, sondern stets nur wiederholt. Der Islam entfaltet sich dort nicht als ewig neue Botschaft über Ort und Zeit hinweg, sondern erstarrt zu einer Wiederholung von Tradition, zu Religionsfolklore.
Die Verbände wandeln sich rasant und durch eigene Wahl und eignes Handeln immer mehr zu Kulturvereinen, in denen das eigentlich Wichtige in der Teestube passiert und nicht im Gebetssaal – sie werden zu Kulturvereinen mit angeschlossenem Moscheebetrieb. Das ist eine traurige Entwicklung. Verschenktes Potential. Verschlafener Wandel.
Oder eben bewusste Selbstisolation und geistige Erblindung für die Botschaft, die man eigentlich in Händen hält. Die heute präsenten verbandlichen Akteure mit ihren vielen Moscheegemeinden erwartet damit eine Zukunft als Facility Manager des Islam in Deutschland. Früher nannte man das „Hausmeister“. Und es ist zu befürchten, dass sie damit gar nicht unzufrieden sind.
Die „Liberalen“
Ähnlich düster sieht es an der liberalen Front der islamkritischen Reformer aus. Es ist in dieser Szene ein Ausmaß an intellektueller Armut und paradoxer Paradigmen zu beobachten, das einem jede Hoffnung nehmen muss, aus dieser Szene werde sich noch irgendetwas Gedeihliches für unser gesellschaftliches Zusammenleben entwicklen.
Man ertappt sich immer wieder bei der Frage, wie furchtbar das Bild der etablierten muslimischen Verbände in der Außenwirkung sein muss, dass die Narrative der „liberalen Reformer“ als Alternative zu einer solchen Verbandslandschaft tatsächlich ernst genommen werden? An den Inhalten selbst kann es nicht liegen, denn dort begegnet uns ein Widerspruch nach dem anderen.
Eines der beliebtesten Narrative der liberalen Reformszene ist die Behauptung, es gebe eine schweigende muslimische Mehrheit. Diese Mehrheit sei gar nicht bei den etablierten muslimischen Verbänden organisiert, sondern warte darauf, dass endlich ein zugkräftiger Reformer sich an die Spitze dieser Gemeinschaft aufschwinge.
Es ist erstaunlich, wie hartnäckig sich diese These unhinterfragt im öffentlichen Raum hält und auch noch von den „Reformern“ selbst perpetuiert wird. Denn sie entzieht in Wirklichkeit der „liberalen Reformbewegung“ jegliche Relevanz. Wenn es tatsächlich so ist, dass nur etwa 15% der Muslime in Deutschland sich bei den etablierten Verbänden religiös zu Hause und vertreten fühlen, warum sind diese Verbände dann überhaupt ein Problem? Warum muss ein Islamverständnis reformiert werden, das nur bei 15% der Muslime in Deutschland wirksam ist? Wenn die schweigenden 85% der Muslime ohnehin einen anderen, einen moderneren Islam leben, warum bedarf es dann einer Reform des Islam? Die müsste sich dann doch schon längst faktisch von selbst vollzogen haben.
Und wenn es denn so ist, dass diese 85% der Muslime für sich ein gesellschaftlich völlig unproblematisches, aufgeklärtes und bestens integriertes Islamverständnis praktizieren, dann ist eine der prägendsten Merkmale eines solchen Verständnisses doch gerade die fehlende Selbstorganisation. Ein solches Islamverständnis braucht dann offenbar keine Vereine, keine gemeinnützigen GmbHs oder Dachverbände, um individuell wirksam zu werden. Wenn es das Ziel einer liberalen Reformbewegung sein soll, den bestimmenden kollektiven Charakter des traditionellen Islam aufzubrechen und die Bedeutung des Individuums wirksam werden zu lassen, dass muss man doch konstatieren, dass die 85% der Muslime in Deutschland genau das bereits für sich umgesetzt haben und sich jeglicher kollektiver Organisation entziehen. Warum bedarf es dann noch eines „liberalen Dachverbandes“? Warum soll diese Mehrheit dann zwangsorganisiert werden?
Diese gedankliche Inkonsistenz der „liberalen Reformer“ manifestiert sich in allen weiteren Detailbeobachtungen:
Sie beklagen den Einfluss der Herkunftsstaaten auf hiesige Muslime, wünschen sich aber gleichzeitig die starke ordnende Hand des deutschen Staates, der die fehlende gesellschaftliche Relevanz und Repräsentativität der „liberalen Reformer“ par ordre du Mutti beheben soll. Der Staat soll Einfluss auf die verfassungsrechtlich geschützte Selbstorganisation der Muslime nehmen und bestimmen, wer ein „gutes“ und wer ein „schlechtes“ Islamverständnis vertritt.
In der gleichen schiefen Logik kanzeln sie den Absolutheitsanspruch im traditionellen Islamverständnis ab, um ihm gleichzeitig den absoluten Anspruch der Überlegenheit der eigenen Islamdeutung entgegenzustellen, für den sie sich auch noch die stellvertretende Durchsetzung durch den Staat wünschen.
Sie beklagen die mangelnde demokratische Kultur innerhalb der muslimischen Verbände und organisieren sich selbst in Form einer gGmbH um mit möglichst wenigen Gesellschaftern und ohne störende Mitgliederbasis die Geschicke ihrer „Selbstorganisation“ in wenige Hände legen zu können.
Sie beklagen die Orthopraxie der etablierten Verbände und reklamieren die Wortführerschaft einer schweigenden und nichtpraktizierenden Mehrheit für sich. Gleichzeitig konzentrieren sie ihre „Reform“ nicht auf inhaltliche Positionen, sondern auf das äußere Erscheinungsbild des Gebetsrituals. Also auf eine Praxis, die für die schweigende Mehrheit der Muslime vermutlich ohnehin keine große Bedeutung hat, da sie sich eben nicht in den bestehenden Moscheegemeinden als Mitglieder organisieren.
Sie reklamieren das Feld der Wissenschaftsfreiheit für sich und möchten in Gestalt ihrer professoralen Vertreter am liebsten im Alleingang die Inhalte der islamischen Lehre bestimmen, ohne sich von Religionsgemeinschaften reinreden zu lassen. Gleichzeitig springen sie aber ausländischen Kollegen bei, die ihre „wissenschaftlichen Gutachten“ von Unternehmensberatern schreiben und von ministeriellen Beamten redigieren und mit dem Ziel parteipolitischer Instrumentalisierung verfälschen lassen. Einen Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit und eine Entwertung universitärer islamischer Theologie vermögen sie selbst bei größter Anstrengung hierin nicht zu entdecken.
Sie verstehen sich als Stimme der individuellen Freiheit und Emanzipation der Muslime. Gleichzeitig taugen sie mit ihren öffentlichen Verlautbarungen und publizierten Werken allenfalls als Zitate-Automat der AfD und anderer identitärer Bewegungen, die gerade unter Bezugnahme auf diese „Reformer“ den Muslimen grundgesetzlich garantierte Freiheiten absprechen. Wie aus der Beihilfe zur verfassungswidrigen Dekonstruktion bürgerlicher Freiheiten von Muslimen mehr Freiheit für Muslime entstehen soll, bleibt das Geheimnis der „liberalen Reformer“.
Das Ergebnis ist deutlich: Aus diesen beiden Fraktionen der deutschen Islamdebatte – Verbände und „liberale Reformer“ – sind keine fruchtbaren Impulse für unser Zusammenleben zu erwarten.
Augenfällig ist zudem, dass diese widersprüchlichen und gedanklich unschlüssigen Positionen vornehmlich von solchen Akteuren der „liberalen Reformszene“ stammen, welche häufig mit einer Flüchtlings- oder Migrationsbiographie ihre negativen Erfahrungen mit dem Islam aus totalitär geprägten Gesellschaften in den deutschen Islamdiskurs importieren.
Damit ist ihr Erfahrungshorizont und ihr Islambild der Lebenswirklichkeit der in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Muslime aber mindestens genauso fremd, wie die traditionellen Ansichten von Verbandsvertretern oder Geistlichen, die aus dem Ausland nach Deutschland kommen.
Neue Wege
Der momentan somit doppelt ausländisch geprägte Diskurs über den Islam und das gesellschaftliche Wirken von Muslimen in Deutschland muss sich von diesen Fremdperspektiven lösen. Die Islamdebatte muss sich darauf fokussieren, aus einer authentischen und originären, also in Deutschland beheimateten und sich als deutsch-muslimische Perspektive auf den Islam verstehenden Haltung heraus gestaltet zu werden.
Das kann nur solchen Akteuren gelingen, die sich als Muslime in Deutschland beheimatet fühlen, die mit den historischen, religiösen, sozialen und kulturellen Codes und Prägungen dieser Gesellschaft aufgewachsen sind und gleichzeitig das Gespür für die ausländisch geprägte muslimische Basis mitbringen, weil sie eben selbst aus dieser stammen.
Es wird Zeit für neue Akteure, neue Perspektiven und neue Impulse:
Authentizität, die sich in der gewachsenen Beheimatung in Deutschland und gleichzeitiger Verwurzelung in der muslimischen Basis manifestiert!
Liberalität, die sich nicht als Fassade für einen willkürlichen Deutungsanspruch geriert, sondern Freiheit als demokratisches Prinzip und religiöse Wirklichkeit lebt!
Heimat, als ein Selbstverständnis ohne Eifersucht, ohne Säbelrasseln, ohne Zwang zur Eindeutigkeit, sondern als natürliche Verbundenheit und Verantwortung für den eigenen Lebensort!
Ambiguität, als Ausdruck der Vielfalt muslimischen Lebens in Deutschland und nicht als Makel aus der Sicht vermeintlich homogener Identitätskonstruktionen!
Moscheen, als Orte des Denkens, Debattierens und fruchtbaren Streitens um immer neue Einsichten in die islamische Offenbarung und nicht als Bühnen der Tradition oder medialer Inszenierung!
Basis, nicht bloß als Nachweis gesellschaftlicher Relevanz oder als Rückgriff auf „schweigende“ Legitimität missbraucht, sondern als stetige Herausforderung zur Reflexion und Erinnerung zum Wandel verstanden!
Religion, nicht als Instrument der Trennung und Abgrenzung, sondern als Rückbindung an ein Bewusstsein der Gemeinsamkeit und der geteilten Verpflichtung für den Nächsten!
Auf geht‘s!