Wahlabend: Die AfD zieht nun also mit etwa 13 % der Stimmen, mithin knapp 90 Parlamentssitzen, in den Deutschen Bundestag ein. Ob sie das mit einem Fackelzug durch das Brandenburger Tor feiern wird, ist zur Stunde noch offen. Was uns ab heute klar sein muss, ist nicht die Tatsache, dass Nazis wieder im deutschen Parlament sitzen. Das taten sie schon vorher. Schon seit Beginn des bundesdeutschen Parlamentarismus nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Unterschied ist: In der Vergangenheit war dies kein Grund, mit einer solchen Gesinnung zu kokettieren. Heute ist das anders. Heute kann man sich wieder öffentlich wünschen, andere Menschen zu „jagen“ und zu „entsorgen“, ohne dass das zum Ende der politischen Karriere und zur gesellschaftlichen Ächtung führt.
Das ist eine Entwicklung, der wir seit Jahren tatenlos zusehen. Die Verschiebung der Grenze des Sagbaren überschritt mit Thilo Sarrazin eine entscheidende Schwelle. Durch eine Debatte, die biologistischen Argumenten wieder öffentliche Geltung verschafft hat, wurde in letzter Konsequenz das grundgesetzlich verankerte Gleichheitsprinzip relativiert und dem Gedanken genetischer, religiöser und kultureller Überlegenheit und damit völkischen Hierarchievorstellungen unterworfen. Die Wiederkehr des Gedankens der Rassenhygiene im Gewand der Vorstellung von einer homogenen, deutschen und damit überlegenen Kultur, die es vor schädlichen Einflüssen zu schützen gilt, ist als solche nicht erkannt worden.
Der UN-Ausschuss zur Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD) und auch die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) rügten seinerzeit die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Sarrazin.
Es wurde insbesondere kritisiert, dass das Fehlen einer effektiven Untersuchung der Äußerungen Sarrazins durch die Ermittlungsbehörden einer Verletzung des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung gleichkam. Deutschland wurde aufgefordert, seine Politik und seine Verfahren hinsichtlich rassistischer Äußerungen zu überprüfen, die Ergebnisse des CERD breit bekannt zu machen, insbesondere Staatsanwälten und Gerichten, und innerhalb von 90 Tagen einen Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Empfehlungen des CERD zu liefern. Nichts davon ist ernst genommen worden. Noch unter Innenminister Friedrich saß Necla Kelek, eine Unterstützerin Sarrazins, als „Expertin“ am Tisch des BMI.
Das ist ein historisches Scheitern der deutschen Behörden, der gesamtdeutschen Öffentlichkeit und im Besonderen der deutschen Sozialdemokratie.
Dieser Dammbruch, den alle gesellschaftlichen Kräfte von Politik über Medien bis hin zu religiösen Gemeinschaften in seiner Tragweite und Bedeutung unterschätzt haben, hat das Fundament unserer Gesellschaftsordnung untergraben. Das Individuum ist gerade dann Teil und gleichzeitig Garant einer pluralistischen Gesellschaft, wenn es aufgrund und wegen seiner Unterschiede im Glauben, Denken und Handeln sich des Schutzes der staatlichen Rechtsordnung sicher sein kann.
Diese Gewissheit gerät immer weiter ins Wanken und motiviert totalitäre Verfassungsfeinde erst Recht zum Bruch mit demokratischen Tabus, je mehr durch gesetzliche Maßnahmen die Pluralität unserer Gesellschaft unter Rekurs auf vermeintlich leitkulturelle Vorstellungen homogenisiert werden soll. Eine so verstandenen „Neutralität“ des Staates kommt einer kulturellen Gleichschaltung der Gesellschaft gleich und gefährdet unsere Verfassungsordnung mit ihrem Schutzversprechen an alle Bürger in ihrer jeweils höchsteigenen Unterschiedlichkeit, mithin den Pluralismus als Grundprinzip unseres Gesellschaftsvertrages selbst.
Diese Entwicklung zeigt uns eines ganz deutlich: Auch nach zwei Weltkriegen und dem beispiellosen Zivilisationsbruch des Holocaust sind wir Deutschen immer noch nicht immun gegen eine Menschenverachtung, die wir auf unsere sehr eigene, gründliche und akribische deutsche Art mit den Mitteln der Sprache euphemisieren und mit den Mitteln des Rechts legitimieren. „Das wird man doch noch sagen dürfen“ wird so schnell zu „Das wird man doch noch verbieten dürfen“, ohne dass die Verfassungswidrigkeit dieser Entwicklung als störend empfunden wird.
Eine solche Entwicklung führt aber schlussendlich zu einer Haltung des „Das wird man doch noch verachten und entsorgen dürfen“. Und diese Facette unseres kollektiven Charakters kehrt nicht etwa in Zeiten großer Not und krisenhafter Umwälzungen zurück. Sie entfaltet sich zu einem Zeitpunkt größten wirtschaftlichen Wohlstandes. Allein die Sorge um eine auch noch so kleine Minderung unseres Reichtums ist Anlass genug, für den Durchbruch unserer Menschenverachtung.
Wir ertränken nicht eigenhändig Hilfe suchende Menschen im Mittelmeer. Aber wir sehen ungerührt dabei zu, wie sie ertrinken. Und wir kalkulieren dieses Grauen, diesen Horror in unsere politischen Entscheidungen mit ein, weil wir uns einen abschreckenden Effekt davon erhoffen. Aber diese Wirkung des Politischen schlägt durch bis in die Gesinnung des einzelnen Bürgers. Und wir zünden dann Flüchtlingsunterkünfte und Wohnungen an und rechtfertigen diese Taten vor Gericht mit der Erklärung, doch nur unsere Nachbarschaft schützen zu wollen.
Nun wird man sicher entgegnen müssen, dass diese Charakteristika nicht für die Mehrheit unter uns Deutschen gelten, dass dies vereinzelte Verirrungen sind. Wir müssen aber feststellen, dass diese Menschenverachtung unter einer dünnen, brüchigen Schicht sogenannter „Sorgen“ gesellschaftlich anschlussfähig ist und ihren Weg in den deutschen Bundestag gefunden hat, also zukünftig massiv mit Steuergeldern unterstützt werden wird. Das ist die Folge einer falschen Politik. Das ist die Folge einer Politik, die davon ausgeht, man müsse zwischen AfD-Wählern und einer völkischen Führungsebene unterscheiden. Man müsse der Basis Gehör schenken und Verständnis für ihre Sorgen haben. Nicht alle, die Nazis wählen, seien auch Nazis. Der Nazi-Vorwurf schwinge in der politischen Auseinandersetzung mit der AfD ins Leere und gebe ihrer Basis noch mehr das Gefühl, von der Politik, von den demokratischen Parteien nicht gehört zu werden.
Diese Position ist nichts anderes als Appeasement. Sie verdrängt, dass unsere Bildungspolitik versagt hat, dass wir in der politischen Bildung unserer Gesellschaft nicht in der Lage waren und sind, die richtigen Lehren aus unserer Geschichte zu ziehen. Wähler, Bürger, die sich als Opfer einer staatlich betriebenen „Umvolkung“ wähnen, die das Holocaust-Mahnmal als „Schandfleck“ empfinden, die wieder Stolz auf „unsere Wehrmacht“ sein wollen, also darauf, dass wir unsere europäischen Nachbarn überfallen, ausgeraubt, und ermordet haben, diese Menschen verdienen kein Gehör, keine Aufmerksamkeit für ihre Meinungen und Wünsche. Sie verdienen lauten Widerspruch, harten Widerstand, gesellschaftliche Ächtung und die Beobachtung durch unsere Sicherheitsbehörden. Denn ihre Positionen sind keine legitimen Äußerungen im politischen Wettbewerb der Argumente. Ihre Positionen sind die Werbung für die Abschaffung unserer Verfassungsordnung, die Entmenschlichung ganzer Bevölkerungsgruppen bis hin zur Relativierung ihrer Existenzberechtigung in unserem Land.
Das sind keine „Sorgen“, um die wir uns kümmern müssen. Das ist eine wachsende Menschenverachtung in unserer Gesellschaft, die wir bekämpfen, die wir eindämmen müssen. Wir müssen wieder Tabus definieren, die in unserem Land nicht mehr verhandelbar sein dürfen. Wir müssen deutlich machen, dass Menschenverachtung und das Kokettieren mit Sympathie für die nationalsozialistische Geschichte unseres Landes einen zwingend zum Außenseiter in unserer Gesellschaft werden lässt. Wir müssen einen Bereich diesseits strafrechtlicher Relevanz definieren, in dem Äußerungen, die einen Bruch mit unserer demokratischen Ordnung darstellen oder fördern, zum faktischen Ausschluss aus dem bürgerlichen Konsens und der gesellschaftlichen Mitte führen.
Wir müssen uns eingestehen, dass die Entnazifizierung unserer Gesellschaft kein historisches, abgeschlossenes Ereignis gewesen ist. Sie ist eine dauerhafte, jede Generation aufs Neue herausfordernde Aufgabe. Unter diese Aufgabe dürfen wir niemals einen Schlussstrich ziehen. Je größer der historische Abstand zum Nationalsozialismus wird, desto größer müssen wir die Gefahr der erneuten Anfälligkeit unserer Gesellschaft einschätzen und desto intensiver müssen unsere Gegenmaßnahmen sein.
Das ist eine Auseinandersetzung, die nicht nur im Parlament stattfinden wird. Wir alle sind dazu berufen, deutlich Stellung zu beziehen. Ich habe vor Kurzem feststellen müssen, dass ich Tür an Tür mit einem AfD-Mitglied wohne. Meine Nachbarin ist nicht bloß AfD-Wählerin. Sie ist Mitglied im hiesigen Kreisvorstand der AfD. Meine Nachbarin hat den gleichen Beruf wie ich. Sie ist Rechtsanwältin. Ein Organ der Rechtspflege. Auf unsere Verfassung vereidigt. Von ihrer politischen Gesinnung habe ich erfahren, als ich sie nachts bei der Heimfahrt dabei sah, wie sie ein Wahlplakat der AfD in unserer Straße anbrachte. Das lässt mich hoffen.
Ich bilde mir ein, dass die Plakataktion im Schutz der Dunkelheit vielleicht ein Zeichen dafür ist, dass sich meine Nachbarin bewusst ist, dass sie mit Nazis sympathisiert, dass sie Nazis in der politischen Arbeit unterstützt. Ich bin davon überzeugt, dass ich kein Verständnis für ihre politische Gesinnung haben muss, dass ich nicht versuchen muss, sie zu verstehen. Ich muss ihr zeigen und deutlich machen, dass dieser Impuls der Scham, diese Flucht in die Anonymität, in die Dunkelheit der Nacht absolut berechtigt sind. Dass meine Nachbarin mit ihrer Sympathie für Nazis keinen Platz in der Mitte unserer Gesellschaft haben darf.
Und als Muslime muss uns klar werden, dass unser Engagement für Deutschland eine Selbstverständlichkeit sein muss. Wir müssen uns unser Land aneignen. Wir müssen Verantwortung für Deutschland übernehmen. Keine noch so weitgehende Anpassung oder Loyalität wird uns davor bewahren, Ziel menschenverachtender Ausgrenzung und Anfeindung zu werden. Auch das ist die Lehre aus unserer deutschen Geschichte.
Es geht nicht darum, dass andere für uns definieren, was Deutsch-Sein ausmacht. Niemand muss uns eine kulturelle Checkliste vorgeben, die wir dann Punkt für Punkt gehorsam abhaken. Nicht die uneingeschränkte Loyalität macht uns zu verantwortungsbewussten Deutschen, sondern – und auch das ist die Lehre aus unserer deutschen Geschichte – der Mut zum Widerspruch und die entschiedene Verteidigung unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung gegen alle Feinde der Demokratie. Das setzt aber voraus, dass wir uns als engagierte Bürger Deutschlands begreifen. Dass wir dieses Land dafür lieben, was es aus seiner Geschichte gemacht hat und wie es zu seiner historischen Schuld steht.
Das setzt aber auch voraus, dass wir es mit der eben gleichen Berechtigung dafür tadeln, wenn es seine Geschichte wieder zu vergessen droht, sei es bei der Verschleierung staatlicher Schuld im NSU-Komplex oder sei es im falschen, verständnisvollen Umgang mit Nazis im Tarnkleid einer vermeintlich bürgerlichen Alternative.
Wir müssen uns mit dieser doppelten Leidenschaft dafür einsetzen, dass unser Deutschland die Heimat aller Menschen bleibt und wird, die in Frieden, Freiheit und Gleichberechtigung leben wollen.