Trinken Identitäre eigentlich Cappuccino?

Der deutsch-türkische Diskurs leidet darunter, dass seine Akteure aneinander vorbeireden. Das geschieht nicht nur versehentlich oder aufgrund kommunikativen Unvermögens. Zuweilen ist zu beobachten, dass die Kommunikation in der einen oder anderen Sprache jeweils dazu dient, unterschiedlich akzentuierte Botschaften in die deutschsprachige oder eben türkischsprachige Gesellschaft zu tragen.

Es findet also selten eine offene Debatte über die jeweils kommunizierten Botschaften statt, bei der die Adressaten durch Gegenrede zur Schärfung und Präzisierung des Diskurses beitragen könnten. Ziel einer solchen Einbahnstraßen-Kommunikation ist es gerade, Gegenverkehr zu vermeiden und einseitig die eigene Botschaft an den Mann oder die Frau zu bringen. Das ist dann aber keine Debatte, sondern ein Selbstgespräch durch dessen repetitiven Charakter der Geltungsanspruch der eigenen unhinterfragten Position untermauert werden soll.

In diesem Blogbeitrag wollen wir versuchen, diese Mauer der einseitigen Vermittlung von Botschaften zu überwinden und tatsächlich so etwas wie einen Diskurs zu ermöglichen. Die im weiteren Verlauf des Beitrages angesprochenen Personen sind hiermit ausdrücklich eingeladen, den Disput gern auch auf dieser Plattform fortzusetzen.

Die „Identitätsfrage“ 

Am vergangenen Sonntag erschien ein Beitrag in der Printausgabe der türkischen Star Gazetesi (später auch auf der Onlineausgabe der Zeitung) mit dem Titel „Almanyalı Türklerin kimlik meselesi“, also in etwa „Die Identitätsfrage der in Deutschland lebenden Türken“.  

Autor des Beitrages ist Numan Ayvaz, ein Student der Rechtswissenschaften an der Ludwig-Maximilian-Universität in München, also vermutlich ein in Deutschland geborener und aufgewachsener junger Mann der zweiten oder dritten Einwanderergeneration. Bemerkenswert und Grund für meine Aufmerksamkeit auf diesen Text ist die Tatsache, dass er auf Facebook verlinkt wurde. Und zwar von Mehmet Alparslan Çelebi, stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD).

Çelebi empfiehlt seinem Facebook Publikum den Text mit dem Hinweis, dass der Beitrag aufmerksam gelesen und geteilt werden möge. Wenn die Zahl derjenigen, die sich mit diesen Themen befassen, zunehmen würde, dann hätten wir als „westeuropäische Türken“ die Möglichkeit, eine Zukunftsperspektive, eine Zukunftsvorstellung zu entwickeln – so Çelebi.

Fassen wir kurz zusammen, welche Vorstellung von der Zukunft der Autor des Beitrages, Numan Ayvaz, skizziert. Sie ist, soviel sei vorweggenommen, geradezu beispielhaft für eine weitverbreitete Vorstellung von türkischer Identität nicht nur unter in Deutschland lebenden türkischstämmigen Menschen, sondern gerade auch aus Sicht der türkischen Politik.

Ayvaz beschreibt die Kategorie des „deutschen Muslims“ als eine „künstliche Identität“, mit der die Auseinandersetzungsbereitschaft, der Kampfgeist türkeistämmiger Muslime in gesellschaftlichen Angelegenheiten gezähmt werden soll. Als Beispiel für diesen Zähmungseffekt führt er bereits in der Überschrift seines Beitrages die Gesetzesänderung für die Möglichkeit der Eheschließung homosexueller Paare an, die – so Ayvaz – sogar von sich als „fromme muslimische Aktivisten vermarktenden“ Personen unterstützt worden sei.

Ayvaz will sein Augenmerk darauf richten, in „welche Richtung“ sich das „Selbst-Bewusstsein“, die „Identität“ der türkeistämmigen Menschen in Deutschland entwickelt. Vor allen Dingen müsse sich die neue Generation in Deutschland die „Identitätsfrage“ stellen. „Wer sind wir, woher kommen wir und wohin gehen wir?“ seien die entscheidenden Fragen, über die sich die neue Generation Gedanken machen müsse. Denn – so ist sich Ayvaz sicher – jede dieser Fragen, die unbeantwortet bleibt, werde „ohne jeden Zweifel von fremden Mächten mit Freuden beantwortet werden.“   

In diesem Zusammenhang erkennt der Autor in dem Angebot einer Identität als „deutscher Muslim“ ein „künstliches Identitätskonzept“, mit welchem die Identitätskomponenten des „Vaterlandes und der Nation“ quasi verdampft werden. Hinter dieser Identitätsform stecke das Bestreben, den Muslim durch die Gewährung einer mehr oder weniger freien Religionsausübung und der Freiheit zur Errichtung von religiösen Bauten zufrieden zu stellen und den Kampfgeist türkeistämmiger Muslime in gesellschaftlichen Fragen einzuhegen. Damit werde der Islam zu einem nur auf Religionsausübung und Ethik beruhenden abstrakten Wertesystem reduziert. An dieser Stelle wiederholt der Autor sein eingangs zitiertes Beispiel der Ehe für homosexuelle Paare und der Unterstützung dieser Gesetzesänderung durch Muslime, die sich als fromme muslimische Aktivisten vermarkteten.

Ayvaz fragt sich, welche Konsequenzen es für ihre „religiöse und kulturelle Persönlichkeit“ hätte, wenn die junge Generation türkeistämmiger Menschen ihre „nationale Identität“ aufgeben und ihr Leben nur als „deutsche Muslime“ fortsetzen würden? Für Ayvaz ist das unvorstellbar. Denn es gäbe keine deutschsprachige Fachliteratur mit der türkeistämmige Muslime ihre Religion und ihre „maneviyat“ erlernen könnten. „Maneviyat“ ist ein interessanter Aspekt, den zu erlernen Ayvaz als besonders wichtig hervorhebt. Der Begriff hat mehrere Bedeutungsebenen. Er steht für Gemütsverfassung, Geistigkeit, das Ideelle, für Spiritualität, die Moral und auch für Kampfmoral.

Die muslimisch-türkische Geschichte und der in dieser Geschichte enthaltene Erfahrungsschatz sei unverzichtbar für die Identitätsbildung junger türkeistämmiger Muslime. Ayvaz stellt wiederholt die Frage, welchen Sinn es denn hätte, von jungen Menschen die Aufgabe ihrer Familiengeschichte, ihrer Volksgeschichte, ihrer „seelischen Wurzeln“ zu verlangen und ihnen eine „neue Identität“ aufzuzwingen?    

Dann zitiert Ayvaz ein Beispiel für die von ihm befürwortete „Zukunft mit Wurzeln in der Vergangenheit“. Er verweist auf das Beispiel der „katholischen Polen“, die etwa 25 km entfernt vom Istanbuler Stadtzentrum in Polonezköy, am Ostufer der Stadt angesiedelt sind. Hier leben Nachfahren jener Polen, die Mitte des 19. Jahrhunderts während der polnischen Teilungszeit ins Exil ausgewandert sind sowie Nachfahren polnischer Söldner, die im osmanischen Heer gedient haben.

Ayvaz bewundert die Einwohner Polonezköys für den Erhalt ihrer polnischen Sprache, die Pflege ihrer polnischen Traditionen, ihres katholischen Glaubens also im Ergebnis den Erhalt der nationalen Identität als Polen. Er schlussfolgert daraus, dass „wir uns nicht einen Millimeter von unserer Mission des Wahren und Wahrhaftigen entfernen dürfen“.

Ayvaz resümiert: Die „neue Generation“ werde niemals ihre Herkunft vergessen, sie werde sich mit ihren „eigenen Merkmalen und ihren trennenden Eigenschaften einen tief verwurzelten Platz in der deutschen Soziologie“ schaffen. Gleichzeitig werde sie sich als Teil des eine erfahrene und reiche Vergangenheit besitzenden muslimisch-türkischen Volkes begreifen. Sie werde sich mit allen Kräften selbst zu einem Verständnis erziehen, das sich als Nachfolge einer tausendjährigen Einheit begreift und damit eine stabile und mit Rückgrat versehene muslimisch-türkische Identität besitzt. In diesem Sinne hätten – so Ayvaz – alle türkischen Zivilverbände in Europa wichtige Aufgaben zu meistern.   

Ayvaz schließt mit der Mahnung, dass sich „die grundlegenden Parameter, die unsere Seele und unser Innerstes formen, niemals verändern dürfen“. Die Hauptaufgabe sei es, der neuen Generation Geschichtsbewusstsein, nationale und geistige Kultur beizubringen und weiterzugeben und „natürlich die Fähigkeit zur Aktion einzuimpfen“.  Jede Veränderung dieser Parameter würde „das Totengebet unserer Identität“ bedeuten. 

Die türkische Identitäre Bewegung

Warum räume ich diesem Text so viel Platz ein? Er offenbart eine gesellschaftliche Entwicklung, über die wir diskutieren müssen. Er ist auf unterschiedliche Weise beispielhaft für ein problematisches Verständnis von Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft.

Der Text reflektiert die Sichtweise eines in Deutschland geborenen türkischstämmigen jungen Mannes. Der Text wird von einem in weiten Teilen in Deutschland sozialisierten führenden Vertreter eines muslimischen Verbandes als wegweisende Lektüre zur weiteren Verbreitung empfohlen. Dabei ist das in diesem Text zum Ausdruck kommende Verständnis von Kultur und Identität hochproblematisch.

Vielleicht ahnen das auch der Autor und der applaudierende Verbandsvertreter, weshalb dieser Text auch nur in türkischer Sprache, in einer türkischen Zeitung erscheint und auch nur in türkischer Sprache kommentierend geteilt und weiterempfohlen wird. Damit wird ein Publikum angesprochen, dessen Zuspruch gewiss scheint. Wir müssen aber über den Inhalt dieses Textes diskutieren. Und zwar auf Deutsch. Denn er betrifft die Begleitumstände unseres Zusammenlebens hier in Deutschland.  

In dem Text kommt ein Verständnis von Kultur und Zusammenleben zum Ausdruck, welches sich nicht im Geringsten von der Ideologie der rechtsextremen Identitären Bewegung unterscheidet. Beiden ist gemein, dass sie ein ethnopluralistisch-kulturrassistisches Konzept vertreten. Beide gehen von einer geschlossenen „eigenen Kultur“ aus, deren „Identität“ vor allem von außen bedroht sei. Die Trennung des „Eigenen“ vom „Fremden“ erfolgt nicht primär entlang ethnischer oder rechtlicher Kriterien, sondern nach Zugehörigkeit zu einer „Kultur“. Alle Einflüsse der als „fremd“ betrachteten „Kulturen“ werden als Gefährdung der „eigenen Identität“ verstanden.

Dabei verstehen beide ideologischen Konzepte ihre eigene Kultur nicht als historisch bedingt und veränderbar. Kultur gleicht einem dinglichen Gegenstand, der gegen Verfall und Zerstörung behauptet und verteidigt werden muss. Entsprechend ist beiden ideologischen Konzepten der Aktionsimus und das „Einimpfen“ von Wehrhaftigkeit und Kampfbereitschaft so wichtig.

Was im früheren Rassismusdiskurs der Aspekt der unterstellten genetischen Höherwertigkeit der eigenen Rasse war, wird nun ersetzt von der Vorstellung der Höherwertigkeit der eigenen, „unveränderten Kultur“.

In dieser Gedankenwelt ist kein Platz für die Vorstellung von hybriden, von multiplen Identitäten. In ihr bleibt kein Platz für die Veränderung von kulturellen Gebräuchen und Traditionen im Kontakt zu anderen, unterschiedlichen kulturellen Einflüssen. Ein solcher Einfluss kann in dieser Vorstellung niemals zu einer bereichernden, wertvollen oder auch nur nützlichen Veränderung führen. Veränderung bedeutet in dieser Vorstellungswelt stets nur Verlust, Zerfall, Schwächung und Überwältigung. Wer kulturelle Veränderung zulässt oder befürwortet, gilt dementsprechend als Verräter.

Ayvaz muss in konsequenter Befolgung seiner ideologischen, identitären Prädisposition zu dem entlarvenden wie gleichzeitig geschichtsvergessenen Beispiel des Polonezköy gelangen. Er skizziert damit die hermetisch konservierte, heute nur noch touristischen Zwecken dienende Abgeschiedenheit einer folkloristischen Enklave, einer sich als Exilkolonie verstehenden Gemeinschaft von gerade mal knapp 400 Menschen zum Vorbild für die Zukunft von fast 4 Millionen türkeistämmiger Menschen in Deutschland, die in ihrer gesellschaftlichen, religiösen und traditionellen Zusammensetzung alles andere als homogen sind.

Ayvaz möchte in einer Gemeinschaft leben, in der alle so sind, wie er sich seine „Identität“ imaginiert und idealisiert. Das ist die Vorstellung einer einheitlichen religiös-kulturellen Prägung, die letztlich auf die Gleichschaltung von Lebensentwürfen abzielt. Alle sollen so denken, fühlen, glauben und leben, wie es die „eigene Kultur“, begriffen als das unveränderbar Gute, vorsieht.

In einer solchen Lebenswirklichkeit haben abweichende Lebensentwürfe oder individuelle Persönlichkeiten keinen Platz. Deshalb sieht sich Ayvaz fast gezwungen, das Beispiel der Ehe für homosexuelle Paare an gleich zwei Stellen anzuführen, um damit seine These der „Degeneration von Kultur durch äußere Einflüsse“ zu beweisen.

Dabei verspürt er – gerade auch als Student der Rechtswissenschaften – und vermutlich angehender Absolvent, der in seiner beruflichen Praxis auf die deutsche Verfassung vereidigt werden wird, nicht ansatzweise die Notwendigkeit, seine Gedankenfigur zu hinterfragen. Es ist bereits aus innermuslimischer Perspektive durchaus diskussionswürdig, ob die religiös untersagte Praxis des homosexuellen Geschlechtsverkehrs einen Einfluss auf den zivilrechtlichen Familienstand von Bürgern haben darf. Schließlich verbietet die Religion den körperlichen Akt und nicht den Menschen oder seinen rechtlichen Status.

Völlig überfordert wird Ayvaz vermutlich von der Frage, welche Rechtsfolge für Bürger gelten soll, die in einem religiös neutralen Staat Anspruch darauf haben, nicht nach den Verbotskriterien einer Religion behandelt zu werden, der sie nicht angehören? Und ob ein Muslim als Bürger eines solchen Staates für sich höchstpersönlich etwas religiös ablehnen aber gleichzeitig für das Recht anderer einstehen kann, die nicht die gleiche religiöse Ablehnung teilen?  

Ayvaz lebt in einer Vorstellungswelt, in der es nur eine Wahrheit, eine Wahrhaftigkeit gibt, der sich alle Individuen unterzuordnen haben. Es ist die Vorstellung einer Monokultur mit einem Volk, einer Tradition, einer Religion, einer Kultur, einer einzigen Form des richtigen und guten Lebens. Alles andere birgt nur die Gefahr der Schwächung und Zerstörung. Ayvaz hat sich vermutlich noch nie einen Cappuccino bestellt.

Wenn nun ein führender muslimischer Verbandsvertreter eine solche Weltsicht und Gesellschaftsvorstellung als Zukunftsperspektive „muslimisch-türkischer Identität“ empfiehlt, welche Schlussfolgerung müssen wir daraus ziehen? Çelebi und Ayvaz wünschen sich offensichtlich eine Zukunft als randständige gesellschaftliche Wagenburg. Eine Schicksalsgemeinschaft, die sich in ihrem türkischen Polonezköy, im abgeschiedenen und von der übrigen Gesellschaft abgewandten Dorf heimelig eingerichtet hat und ihre gesellschaftliche Relevanz freiwillig auf die Funktion einer touristischen Attraktion reduziert. Sie wünschen sich eine Zukunft als nationale Minderheit, in ihrer „Identität“ von der übrigen Gesellschaft in Ruhe gelassen, ungestört in ihrer Überzeugung von der eigenen „kulturellen Überlegenheit“.

Die Ausschließlichkeit, mit der beide ihre Vorstellung von „Kultur“ und „Identität“ pflegen, widerspricht der menschlichen Realität. Und sie widerspricht der islamischen Offenbarung, in der gerade die Vielfalt der menschlichen Schöpfung, die Vielfalt von kulturellen Eigenheiten, von Stämmen und Völkern als göttliche Absicht zum Nutzen der Menschen beschrieben wird. Sie widerspricht der islamischen Offenbarung, dass kein Mensch dem anderen Menschen in Abstammung, Ethnie oder Kultur überlegen ist.

Das Türkische, die türkische Kultur, die türkische Sprache und auch das gewachsene türkische Islam-Verständnis sind zweifellos und unbedingt erhaltenswert. Sie sind wertvoll, sie enthalten immensen Reichtum und vermögen mich, aufgrund meiner persönlichen familiären Prägung auf eine Art anzusprechen und die Saiten meiner Seele auf eine Art anzuschlagen, wie es anderen Sprachen und Kulturen kaum gelingt. Aber sie sind deshalb nicht in einem absolut-objektiven Verständnis „besser“ als andere Sprachen oder Kulturen. Die Sphäre der Kultur kann nicht mit Kategorien des Qualitativen beurteilt werden. Jede für sich ist wertvoll und erhaltenswert. Und jeder Mensch sollte die Gelegenheit haben, mit dieser Vielfalt in Berührung zu kommen und für sich zu entscheiden, in welchem Maße und in welcher Weise er für sich Veränderung, Aneignung, Konservierung zulassen oder wirksam werden lassen möchte.

Das ist das Prinzip einer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaftsordnung getragen von freien Individuen. In ihr ist auch Platz und Zukunft für eine sehr eigene, wertvolle, ganz besondere Reichtümer und Schätze bergende und vielleicht auch durch Veränderung neu erschaffende deutsch-türkische, deutsch-türkisch-muslimische Identität und Kultur. Wer sich mit Verlustängsten in die imaginierte homogene Kulturkolonie flüchten will, sei es auf Dresdener Montagsmärschen oder mit Texten der oben besprochenen Prägung, mag das als eigenen Lebensentwurf praktizieren. Dieser Selbstgenügsamkeit, dieser Selbstisolation kann aber niemand folgen, der seine (türkische) Kultur wertschätzt und anderen nahebringen will.

Und als Gesellschaftsmodell hat ein solches identitäres Verständnis von Kultur und Religion außer den eigenen Angehörigen niemandem etwas zu bieten.