Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg ist das oberste rechtsprechende Organ der Europäischen Union. Er hat jüngst in zwei Urteilen Fragen zur Diskriminierung am Arbeitsplatz behandelt und durch seine Entscheidungen die Abwägung zwischen Religionsfreiheit von Angestellten und der unternehmerischen Freiheit des privatrechtlichen Arbeitgebers präzisiert.
Die Entscheidungen sind in der deutschen Öffentlichkeit rege diskutiert worden. Die Debatte trägt jedoch sowohl in der Kommentierung durch islamische Religionsgemeinschaften, als auch durch die Presseberichterstattung Züge einer einseitigen und verengten Betrachtung, so dass eine intensivere Auseinandersetzung mit beiden Urteilen angebracht erscheint. Denn auch wenn die Entscheidungen allseits als „Kopftuch-Urteile“ bezeichnet werden, entfalten sie eine über die Betroffenheit von muslimischen Frauen hinausreichende Wirkung, welche – so hat es jedenfalls den Anschein – gegenwärtig verkannt oder zu wenig thematisiert wird.
Samira Achbita ./. G4S Secure Solutions NV
Das grundsätzlichere und für die weitere Fortsetzung der Debatte relevantere Urteil ist in dem Rechtsstreit Samira Achbita, u.a. ./. G4S Secure Solutions NV (Az. C-157/15) erlassen worden.
Die Klägerin arbeitete als Rezeptionistin im Betrieb des Beklagten und wollte im seit mehreren Jahren laufenden Arbeitsverhältnis zukünftig am Arbeitsplatz ein Kopftuch tragen. Der Arbeitgeber hatte eine betriebsinterne Regel aufgestellt, die wie folgt lautet: „Es ist den Arbeitnehmern verboten, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen zu tragen und/oder jeglichen Ritus, der sich daraus ergibt, zum Ausdruck zu bringen.“
Gestützt auf dieses Verbot beendete der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis. Nach den nationalen Gerichten hatte nun der EuGH über die Rechtmäßigkeit der Kündigung und damit der Verbotsregel zu entscheiden. In der Entscheidungsbegründung wird deutlich, dass der EuGH eine Abwägung zwischen der Religionsfreiheit der Klägerin einerseits und der unternehmerischen Freiheit des beklagten Arbeitgebers andererseits vornimmt. Er kommt dabei zu einem rechtlichen Ergebnis, mit dem der Fall zur Klärung von tatsächlichen Fragen – unter Einhaltung der durch den EuGH vorgegebenen rechtlichen Würdigung – an die nationalen Gerichte zurückverwiesen wird.
Unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung?
Der EuGH gibt in seiner rechtlichen Würdigung vor, dass keine unmittelbare Diskriminierung der Klägerin vorliege, weil von dem Verbot alle Mitarbeiter gleichermaßen betroffen seien. Es richte sich an ausnahmslos alle Beschäftigten und erlege allen die gleiche Verbotsregelung auf. Mangels Ungleichbehandlung sei also keine unmittelbare Diskriminierung allein der Klägerin gegeben.
Auch eine mittelbare Diskriminierung sei zu verneinen. Eine solche könne vorliegen, wenn ein Verbot nur dem Anschein nach neutral formuliert sei, in Wirklichkeit aber dazu führe, dass nur Personen mit einer bestimmten Religion in besonderer Weise benachteiligt würden. Eine solche Regel könne nur dann zulässig sein, wenn der Arbeitgeber damit ein rechtmäßiges Ziel verfolge und bei der Durchsetzung des Verbots die Verhältnismäßigkeit seiner Maßnahmen beachte.
Der Wunsch des Arbeitgebers, „im Verhältnis zu den öffentlichen und privaten Kunden eine Politik der politischen, philosophischen oder religiösen Neutralität zum Ausdruck zu bringen“, sei ein schutzwürdiges Interesse. Sein Wunsch, „den Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln“ sei Ausdruck unternehmerischer Freiheit, mithin ein rechtmäßiges Ziel.
Eine Kündigung sei in einem solchen Fall nur dann nicht zulässig, wenn dem Arbeitgeber die Versetzung der betroffenen Angestellten auf einen Arbeitsplatz ohne Sichtkontakt zu Kunden möglich wäre.
Hinsichtlich der Angemessenheit einer solchen Verbotsregel stellt der EuGH aber fest, dass sie erst dann „zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Anwendung einer Politik der Neutralität geeignet ist, sofern diese Politik tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird.“
Diesen Satz kann man in seiner Tragweite und Bedeutung nicht überschätzen. Er wird die gesamte Debatte auf eine grundsätzlichere und gesellschaftlich ungemein invasive Ebene transportieren. Dazu gleich mehr.
Das Kopftuch als bloße Bekleidung
In diesen Entscheidungsgründen des EuGH wird deutlich, dass das Gericht im Wesentlichen den Ausführungen und rechtlichen Würdigungen der Generalanwältin Juliane Kokott folgt, die bereits im Frühjahr 2016 in ihrem Schlussantrag hat deutlich werden lassen, welchen Fehleinschätzungen tatsächlicher Art sie – und nun letztlich auch der EuGH mit seiner Entscheidung – erliegt.
Sie hatte damals bereits ausgeführt, dass im Rahmen der Abwägung zwischen unternehmerischer Freiheit und Religionsfreiheit Arbeitnehmern eine gewisse Zurückhaltung hinsichtlich ihrer Religionsausübung am Arbeitsplatz zugemutet werden könne.
Es sei mittels einer Gesamtbetrachtung aller Details des Einzelfalls und unter Abwägung aller widerstreitender Interessen zu klären, welches Maß der Zurückhaltung einem Arbeitnehmer abverlangt werden könne. Geschlecht, Hautfarbe, ethnische Herkunft, sexuelle Ausrichtung, Alter oder Behinderung könne ein Arbeitnehmer nicht einfach ablegen – Bekleidung schon.
Damit ließ die Generalanwältin bereits mit ihrem Schlussantrag erkennen, dass sie das Tragen eines Kopftuchs bei muslimischen Frauen lediglich als disponible religiöse Praxis, als nur mittelbar religiös bedingte Verhaltensweise begreift. Dieser Wertung ist nun auch der EuGH mit seiner Entscheidung gefolgt.
Beide verkennen, dass für eine muslimische Frau, die das Tragen eines Kopftuchs als zwingende religiöse Pflicht begreift, es keine graduelle Abweichung von dieser Entscheidung geben kann. Das Tragen des Kopftuchs ist für sie zwingende Folge ihres Bekenntnisses und keine lediglich mittelbar motivierte Verhaltensweise. Sichtbarkeit im öffentlichen Raum ohne Kopftuch ist ihr unmöglich. Damit gibt es aber keine äußere Sphäre ihres Grundrechts auf Religionsfreiheit, in die mittels praktischer Konkordanz zur Entfaltung anderer Freiheitsrechte eingedrungen werden kann, ohne den Wesenskern ihrer Religionsfreiheit zu verletzen.
Das heißt, durch das Verbot eines Kopftuches ist stets und unmittelbar der Kern der Religionsfreiheit betroffen, weil im Selbstverständnis der kopftuchtragenden muslimischen Frau das Ablegen des Kopftuches im öffentlichen Raum gleichbedeutend ist mit der Leugnung ihres Glaubensbekenntnisses.
Hintertür zum Kulturvorbehalt
Bemerkenswert ist ein weiterer Punkt bei den Ausführungen der Generalanwältin zu den Kriterien der Einzelfallprüfung. In die Abwägung der widerstreitenden Interessen soll insbesondere einfließen: Größe und Auffälligkeit des religiösen Zeichens, Art und Kontext der ausgeübten Tätigkeit und die nationale Identität Belgiens.
Diese Formulierungen sind aus der Perspektive unserer deutschen Rechtsordnung höchst problematisch. Das Abstellen auf die Größe und Auffälligkeit des religiösen Zeichens soll aller Voraussicht nach als Schmuck getragene religiöse Motive dem Kopftuch gegenüber privilegieren. Art und Kontext der ausgeübten Tätigkeit stellt auf die Sichtbarkeit der Kopftuchträgerin ab und proklamiert hier im Ansatz einen vermeintlichen Anspruch, vor der Sichtbarkeit anderer Glaubensbekenntnisse im Alltag verschont bleiben zu dürfen. Eine Forderung, die unsere Rechtsordnung ausdrücklich ablehnt und gerade nicht unter den Schutzbereich der negativen Religionsfreiheit einordnet.
Und letztlich das Abstellen auf die nationale Identität eines Landes: Hier scheint der Ansatz eines Kulturvorbehaltes durch, welche mit der Neutralitätspflicht des Staates – jedenfalls in unserer deutschen Rechtsordnung – unvereinbar ist. Gerade im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis übernimmt keiner der Beteiligten hoheitliche Aufgaben. Selbst für den Bereich öffentlicher Schulen hat unser Bundesverfassungsgericht mit seiner aktuellen Rechtsprechung zu diesem Thema deutlich gemacht, dass jegliche Privilegierung etwa christlicher oder jüdischer religiöser Bekundungen und Zeichen unter Hinweis auf die kulturelle und historische Prägung unserer Gesellschaft gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt und damit verfassungswidrig, also nichtig ist.
Rückfall um mehr als ein Jahrzehnt
Im Ergebnis fällt der EuGH mit dieser Entscheidung zurück auf den Stand der deutschen Rechtsprechung Anfang der 2000er Jahre, als nach dem Ludin-Urteil des Bundesverfassungsgerichts die religiöse Neutralitätspflicht des Staates als Vorwand zum Verbot religiöser Zeichen und Bekundungen im öffentlichen Raum herangezogen wurde.
Diese Rechtsprechung wurde erst vor Kurzem korrigiert. Dem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat und dem pluralistischen Gesellschaftsverständnis als Grundlage einer solchen Rechtsordnung steht es deutlich besser zu Gesicht, wenn er seine Neutralitätspflicht dahingehend auslegt, der Religionsfreiheit seiner Bürger größtmöglichen Schutz und damit praktische Entfaltung im Alltag zu gewähren.
Asma Bougnaoui ./. Micropole SA
Vollends widersprüchlich wird die Haltung des EuGH, wenn auch das zweite Urteil in die Betrachtung eingebunden wird. Im Rechtsstreit Asma Bougnaoui, u.a. ./. Micropole SA (Az. C-188/15) wurde die Klägerin entlassen, nachdem ein Kunde ihres Arbeitgebers sich von dem Kopftuch der Klägerin gestört fühlte. Sie war im Außendienst beim Kunden ihres Arbeitgebers tätig, der daraufhin den Arbeitgeber bat, dass es „nächstes Mal keinen Schleier“ geben möge. Der Aufforderung ihres Arbeitgebers, dem Wunsch des Kunden zu folgen und den Außendienst ohne Kopftuch zu erfüllen, wollte die Klägerin nicht entsprechen. Ihre Weigerung, das Kopftuch abzunehmen, hatte die Kündigung und unbezahlte Freistellung bis Ende der Kündigungsfrist zur Folge.
Die nationalen Gerichte – diesmal in Frankreich – sahen den Arbeitgeber im Recht, der das neutrale Bild des Unternehmens zu wahren suche, um die Überzeugung seiner Kunden nicht zu verletzten. Die Klägerin dränge sich den Kunden ihres Arbeitgebers auf, ohne deren Empfindlichkeiten zu beachten, wodurch in die Rechte Dritter eingegriffen werde.
Der EuGH stellt in seiner Entscheidung auf einen anderen Aspekt ab. Europäische Richtlinien zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (Richtlinie 2000/78) würden eine Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern nur dann gestatten, wenn „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen“ dies rechtfertigen. Er führt weiter aus, „dass der Begriff „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ […] auf eine Anforderung verweist, die von der Art der betreffenden beruflichen Tätigkeit oder den Bedingungen ihrer Ausübung objektiv vorgegeben ist. Er kann sich hingegen nicht auf subjektive Erwägungen wie den Willen des Arbeitgebers, besonderen Kundenwünschen zu entsprechen, erstrecken.“
Das heißt, der Wunsch eines Kunden, der Arbeitgeber möge eine Arbeitnehmerin einsetzen, die kein Kopftuch trägt, sei keine objektive, keine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“.
Im Ergebnis beider Urteile ist also eine Kündigung unzulässig, wenn der Arbeitgeber einem Wunsch seines Kunden folgt. Wenn er aber selbst den Wunsch hegt, von einem Kopftuch seiner Arbeitnehmerin verschont zu bleiben und seine Kunden zu verschonen, muss er lediglich interne Verbotsregeln aufstellen und diese allgemeingültig formulieren. Seinen eigenen unternehmerischen Wunsch, nach außen „neutral“ aufzutreten, will der EuGH ausdrücklich schützen. Im ersten Fall soll ein so fundamentales Grundrecht wie die Religionsfreiheit verletzt sein, im zweiten Fall der gleiche Eingriff aber zulässig.
Historische Weichenstellung
Beide Entscheidungen sind mit Blick auf unsere deutsche Rechtsordnung und die Zukunft unserer pluralistischen Gesellschaft eine schwere Last.
Unser Bundesverfassungsgericht hat in seiner aktuellen Rechtsprechung ausdrücklich betont, dass die Sichtbarkeit einer muslimischen Frau mit Kopftuch eine gesellschaftliche Realität abbildet, auf die gerade auch die schulische Erziehung und Bildung von Kindern vorbereiten muss. Diese Realität ist gleichzeitig Ausdruck unseres freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaftsverständnisses. In einer solchen Gesellschaftsordnung hat niemand Anspruch darauf, in der Öffentlichkeit vom Anblick anderer religiöser Bekundungen oder Zeichen verschont zu bleiben.
Diesem Verständnis soll aber nun nach Vorgabe des EuGHs der private Arbeitsmarkt nicht folgen müssen. Private Arbeitgeber sollen alle religiösen Bekundungen und Zeichen – jedenfalls dann, wenn sie für Kunden sichtbar sind – verbieten dürfen. Erinnern wir uns an die Voraussetzung, die der EuGH für die Angemessenheit eines solchen Verbots formuliert: Das Verbot ist erst dann „zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Anwendung einer Politik der Neutralität geeignet […], sofern diese Politik tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird.“
Das bedeutet, dass jeder Arbeitgeber, der sich von Kopftüchern gestört fühlt und diese mittels interner Verbotsregelung zur Wahrung eines „Bildes der Neutralität gegenüber Kunden“ in seinem Betrieb verhindern will, dazu verpflichtet ist, „in kohärenter und systematischer Weise“ auch gegen jede andere religiöse Bekundung oder entsprechende Zeichen vorzugehen.
Um seinen Kunden den Anblick kopftuchtragender Frauen zu ersparen, muss er dafür sorgen, dass Weihnachtsfeiern wenn überhaupt nur noch in geschlossenen betriebsinternen Räumlichkeiten stattfinden und nicht in öffentlich zugänglichen Orten, wo Kunden diesen Verstoß gegen das unternehmerische Bild religiöser Neutralität wahrnehmen könnten. Weihnachtliche oder österliche Dekorationen des Arbeitsplatzes müssten untersagt werden, wenn sie für Kunden sichtbar sind. Dem Personal im Kundenkontakt wäre der Wunsch „Frohes Fest!“ oder „Frohe Weihnachten!“ untersagt. Überall dort, wo Kunden in Kontakt mit Betriebsräumen und -personal kommen, müsste eine Atmosphäre religiöser, weltanschaulicher, philosophischer Sterilität sichergestellt sein.
Zusammen mit dem Kopftuch würde so auch das „christliche Abendland“ aus dem privaten Arbeitsmarkt abgeschafft werden.
Viel mehr als nur „Kopftuch-Urteile“
Bei allen Protesten und Kritik in der öffentlichen Debatte geht somit unter, dass der EuGH mit seinen beiden Entscheidungen eben keine bloßen „Kopftuch-Urteile“ gefällt hat. Es hat Entscheidungen getroffen, historische Weichen gestellt, die uns unmissverständlich mitteilen, dass die Entfernung islamischer Sichtbarkeit aus dem öffentlichen Raum, aus dem öffentlichen Alltag nur zu dem Preis der völligen Aufgabe und Beseitigung all dessen, was unsere Gesellschaft bisher mit religiösem Gehalt entscheidend geprägt hat, zu haben sein wird.
Der EuGH formuliert damit bewusst oder unbewusst, dass unsere Gesellschaft ihr bisheriges religiös-kulturelles Erbe nicht behalten, nicht lebendig halten kann, wenn wir nicht Muslimen die gleiche Sichtbarkeit, die gleiche Freiheit alltäglicher Entfaltung und Präsenz zuzugestehen bereit sind.
Samira Achbita und Asma Bougnaoui haben damit dem EuGH nicht nur die Frage gestellt, ob sie ihr Kopftuch am Arbeitsplatz tragen dürfen. Sie stellen uns allen damit die Frage, ob wir dazu bereit sind, unser kulturelles Erbe, unsere Identität, unser alltägliches Selbstverständnis zu zerstören, nur um die Freiheit anderer einzuschränken.
Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage müssen gerade wir in Deutschland uns bewusst sein, was der Begriff „Neutralität“ für uns bedeutet. Das Bundeverfassungsgericht hat unseren Staat, als „Heimstatt aller Bürger“ beschrieben, gleich ob und was sie glauben oder nicht glauben. Im Sinne einer positiven Neutralität hat dieser Staat dafür zu sorgen, dass sich alle seine Bürger entsprechend entfalten können, statt im Sinne einer negativen Neutralität durch allumfassende Verbote eine Vereinheitlichung öffentlicher Lebensgestaltung zu befördern.
Gott im Grundgesetz
Dabei spielt Religion, insbesondere im öffentlichen Raum, eine für uns in Deutschland historisch besonders beachtenswerte Rolle. Unser Grundgesetz beginnt mit einer Präambel, die ausdrücklich eine nominatio dei, eine Nennung Gottes, enthält. Im Gegensatz zu der Anrufung eines Gottes, der invocatio dei, ist der lediglich auf eine dem Menschen übergeordnete göttliche Instanz verweisende Gottesbezug des Grundgesetzes eben keine konfessionell exklusive Einschränkung. Es findet keine Privilegierung einer bestimmten Religion statt und gerade dadurch öffnet sich der Staat mit seinem Gottesbezug allen Bürgern in gleicher Weise und in gleichem Maß.
Gleichzeitig dokumentiert unser Verfassungsstaat, dass er sich der Erfahrungen der NS-Diktatur bewusst, niemals von einer uneingeschränkten, absoluten Staatsgewalt ausgeht. Damit will unsere Verfassung stets daran erinnern und in lebendiger Praxis angewandt wissen, dass es stets eine höhere Macht gibt, als die der staatlichen Gewalt.
Eine Rechtsordnung, die in ihren höchsten Grundsätzen der Religion eine solche Bedeutung beimisst, kann keinem Neutralitätsverständnis folgen, das zur vollständigen Entfernung alles Religiösen im gesellschaftlichen Alltag ansetzt. Die Präsenz des Religiösen – gerade in seiner Vielfalt und gerade auch in der Reibung mit anderen Glaubensvorstellungen oder dem Nichtglauben – erinnert uns an die Existenz einer höheren und die Begrenztheit unserer eigenen Macht.
Und damit auch daran, dass wir uns nicht mit der Hybris menschlicher Allmacht zum Wächter über die Glaubens- oder Lebensvorstellungen anderer aufschwingen dürfen. Wenn wir diesen Platz, den das Religiöse in all seiner Vielfalt im öffentlichen Raum und im öffentlichen Alltag einnimmt, mittels umfassender Neutralitätsverbote räumen, entsteht eine Lücke, die der Mensch mit eigenen Absolutheitsansprüchen füllt und dadurch beginnt, zu entscheiden, was und wer alles noch aus dem öffentlichen Leben entfernt werden muss.