Macht hoch die Tür, die Tor macht weit

Die deutsch-türkischen Verhältnisse sind seit einiger Zeit extremen Belastungen und Anspannungen ausgesetzt. Jede Seite hat aus ihrer Sicht vertretbare Gründe, die Haltung der jeweils anderen Seite zu kritisieren. Die eingenommene Position gleicht auf beiden Seiten aber immer mehr der einer Wagenburg.

Klare Grenzen zwischen Freund und Feind, eindeutige Kriterien: Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich. Jeder reklamiert für sich die Rolle des Aufrechten, des Edelmütigen. Und alle anderen sind die Niederträchtigen, die Feindseligen. Diese Geisteshaltung braucht stets den Gegner. Nur mit ihm braucht es keine Erklärung oder Rechtfertigung für das eigene Handeln. Der Kampf gegen das Böse, gegen den Feind rechtfertigt jedes Handeln, jede Entscheidung.

Diese antagonistische, konfrontative Einstellung ist zum Gespräch, zum Verstehen, zur Empathie nicht fähig. Sie braucht den Widerstand, den Widerstreit, den Kampf. Zur Not wird er auch konstruiert.

In vielen Texten auf diesem Blog wurde wiederholt beschrieben, wie sehr die Islamdebatte in Deutschland immer stärkere Züge eines irrationalen Kulturkampfes trägt. Nun scheint die Türkei gewillt zu sein, sich diesem anzuschließen.

Auf beiden Seiten gießt ein Politikverständnis, das sich vom Lärm, von der Reibung, vom Konflikt nährt, immer weiter Öl ins Feuer. Die räumliche Distanz der beiden Länder, die Enthemmung in den Sozialen Medien lässt die Kulturkämpfer auf beiden Seiten vergessen, dass Deutschland und die Türkei zwar keine gemeinsame Grenze, aber über 3 Millionen gemeinsame Menschen haben. Das politische Zerren und Ringen um diese Menschen, ihre Zugehörigkeit, ihr Engagement, nimmt immer unwürdigere Auswüchse an.

Dieser Streit blendet die Realität aus, dass diese Menschen – gerade jene in der dritten und vierten Generation – eine starke Verbundenheit zu beiden Ländern empfinden. Eine Politik, die auf eindeutige Gefolgschaft, auf einseitige Treue, ja auf kategorische Ablehnung des Gegnerischen als Voraussetzung für Zugehörigkeit setzt, steht der Lebenswirklichkeit und an den tatsächlichen Empfindungen der Menschen entgegen und ist langfristig zum Scheitern verurteilt.

Aktuell eskaliert diese politische Geisterfahrt durch ein Verbot von weihnachtlichen Bräuchen an einer staatlichen Schule in Istanbul. In dieser wohl als Zeichen der Stärke gemeinten politischen Geste kommt die ganze Schwäche und Unsicherheit einer Haltung zum Ausdruck, der jegliche Selbstgewissheit und Souveränität fehlt.

Mir liegt ein behördliches Schreiben vor, das, sollte es authentisch sein, bedrückend zum Ausdruck bringt, wie in den Bräuchen und Traditionen einer anderen Religion nur das Moment der Bedrohung, der Entfremdung und der Verführung wahrgenommen wird. Es ist nichts anderes als das Eingeständnis einer schier unglaublichen Schwäche und Unsicherheit der eigenen religiösen Verortung. Sollten auch christliche Kinder von diesem Verbot betroffen sein, kommt auch noch ein inakzeptabler Eingriff in die Religionsfreiheit hinzu. Zumal das Bildungsprofil der betroffenen Schule als Auslandsschule ja allen bekannt ist.

In diesem Verbot, mit dem muslimische Kinder vor „negativen Einflüssen und Gewohnheiten“ geschützt werden sollen, kommen gleich mehrere Bankrotterklärungen zum Ausdruck.

Zunächst schwingt dort diese unfassbare Schwäche der eigenen Glaubensüberzeugung mit, bei der der Kontakt mit anderen religiösen Inhalten als eine Art Kontamination verstanden wird, durch die eigene Glaubensbekenntnisse geschwächt oder gar gänzlich aufgehoben werden könnten. Es ist die gleiche Angst, die manche muslimischen Eltern dazu treibt, ihren Kindern einen Schulausflug in eine Kirche zu verbieten. Oder die einen Pegidisten fürchten lässt, durch den Verzehr von halal geschlachtetem Fleisch zum Muslim zu werden.

Hinzu kommt eine Vorstellung von gesellschaftlicher Homogenität, die in jeder Abweichung von der Norm, in jeder Andersartigkeit, jedem Unterschied eine existenzielle Bedrohung des Eigenen wahrnimmt. Ein Antipluralismus, der in der Türkei nachhaltige Spuren hinterlässt, von dem aber auch Deutschland immer stärker betroffen ist.

Am bedrückendsten ist vielleicht die Tatsache, dass dieses Weihnachtsverbot aus einer politischen Richtung kommt, die sich als authentisch islamisch begreift, mit diesem Gebaren aber deutlich zum Ausdruck bringt, dass ihr Handeln nicht im Einklang steht mit einer Religion, die sich klar für eine Tisch- und Familiengemeinschaft mit Juden und Christen ausspricht, deren Anhänger heute aber Angst davor haben, ihre Kinder in Kontakt mit christlichen Bräuchen kommen zu lassen.

Aus eigener biographischer Erfahrung weiß ich aber, wie förderlich und fruchtbar ein solcher Kontakt sein kann. Ich bin im protestantischen Lübeck in einer katholischen Spielgruppe groß geworden. Als muslimischem Kleinkind ist einem die vielschichtige Besonderheit einer solchen Konstellation natürlich nicht bewusst. Aber man erlebt mit, wie Altersgenossen vor dem Mittagsschlaf in der angeschlossenen Kapelle beten. Früh haben mir meine Eltern vermittelt, dass wir auch aber inhaltlich anders glauben und dass sich auch unsere Rituale unterscheiden. Gleichwohl war es eine wohltuende Übung, den Glauben als etwas Alltägliches und im Tagesablauf fest Verankertes zu erleben und so auch an die eigene alltägliche Religionspraxis herangeführt zu werden.

Ich habe später bis zum Stimmbruch im Knabenchor meiner Schule gesungen. Zu unserem Chorkalender gehörte auch der Auftritt als Weihnachtschor im Lübecker Dom. So stand ich mehrmals mit schwarzer Hose, weißem Hemd und roter Fliege im bis auf den letzten Platz gefüllten Dom zu Lübeck und sang Weihnachtslieder. Diese Weihnachtskonzerte haben mich immer an die Momente erinnert, in denen wir in der Moschee zu bestimmten feierlichen Anlässen eine Salavat oder eine Teşrik Tekbiri angestimmt haben. Es sind vollständig unterschiedliche melodische Eindrücke, es waren aber stets sehr ähnliche Gefühle, die ich mal beobachten und mal mitempfinden konnte.

Diese Empathie des unmittelbaren Erlebens, des Nachspürens besonderer religiöser Momente, sicher auch sehr intimer Augenblicke, war für mich immer ein Anlass mich im eigenen Glauben noch stärker gefestigt zu fühlen und gleichzeitig dem christlichen Glauben meiner Nachbarn und Freunde mit mehr Achtung und Wertschätzung zu begegnen. Wie man Kindern diese Erfahrung verbieten kann, ist mir vor dem Hintergrund dieser sehr persönlichen Erfahrungen ein Rätsel.

Ich bin mir bewusst, dass eine solche Nähe, wie ich sie mit meinen persönlichen Erfahrungen gepflegt habe, für viele muslimische Familien unpassend oder gar ablehnungswürdig erscheint. Ich halte das aber für einen Irrtum. Nun muss sicher nicht jedes Kind im Weihnachtschor singen, nur weil ich damit positive Erfahrungen verbinde. Aber das aufrichtige Interesse für und die ernsthafte Beschäftigung mit dem Glauben des jeweils Anderen sind meiner Auffassung nach unverzichtbare Elemente in einer pluralistischen Gesellschaft.

Nur so kann uns der Andere mit all seinen Unterschieden und religiösen Besonderheiten dennoch als Mitmensch, als Nachbar, vielleicht als Freund vertraut werden. Und nicht nur die intellektuelle Beschäftigung mit diesen Themen, sondern auch der emotionale Zugang, das Nachempfinden, das Mitfühlen gehören dazu. Ich habe aus meinem Glauben heraus die Kernbotschaft der Weihnachtslieder nicht mitglauben können. Diese Grenze, dieser Unterschied war mir stets bewusst. Es waren aber die Bilder, die Gleichnisse, die dadurch ausgelösten Gefühle, die ich als verbindende Kraft mitempfinden konnte.

„Es ist ein Ros‘ entsprungen, aus einer Wurzel zart.“… An diese Zeilen musste ich denken, als ich in späteren Jahren etwas über die Symbolik der Rose bei islamischen Mystikern las. „Aus Gottes ewgem Rat hat sie ein Kind geboren und blieb doch reine Magd.“… habe ich gesungen, noch bevor ich über die Geburt Jesu im Koran las.

„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit; es kommt der Herr der Herrlichkeit; ein König aller Königreich, … Gelobet sei mein Gott, mein Schöpfer reich von Rat.“… Bei diesen Zeilen war ich sicher der Einzige im weiten Dom zu Lübeck, der an die Eröffnungssure des Korans denken musste.

Und Jahre später bei intensiverer Koranlektüre gab es sicher nicht viele, die bei den Koranversen 94, 1: „Haben Wir dir nicht deine Brust geweitet?“ und 49, 14: „Sie sagen: „Wir glauben.“ Sprich: Ihr glaubt nicht wirklich. Sagt vielmehr: Wir sind Muslime geworden. Der Glaube ist ja noch nicht in eure Herzen gedrungen….“ wieder an dieses Lied und diese Zeilen denken musste: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, eu’r Herz zum Tempel zubereit‘. Die Zweiglein der Gottseligkeit steckt auf mit Andacht, Lust und Freud; so kommt der König auch zu euch, … Gelobt sei mein Gott, voll Rat, voll Tat, voll Gnad.“

Es geht mir nicht um synkretistische Relativierung von Glaubensinhalten. Die Symbolik der Sprache auch bei der Beschreibung der Trinitätslehre ist mir bewusst. Gleichwohl kommt es mir darauf an, verständlich zu machen, dass wir in vielen Texten, in vielen Quellen und Momenten des gelebten Glaubens Augenblicke haben, in denen wir uns sehr nahe sind, in denen wir Gleiches empfinden, in denen wir durch unterschiedliche Glaubensvorstellungen dennoch in gleicher Weise gerührt, berührt werden.

Diesen Momenten nachzuspüren, sie wirksam werden zu lassen und sie wertzuschätzen, kann es uns erleichtern, den jeweils Anderen nicht als Bedrohung zu sehen, sondern in ihm trotz aller Unterschiede eine Verwandtschaft, eine Vertrautheit zu entdecken. Vielleicht ist es das, was Allah im Koran meint, wenn er uns verkündet, dass er uns mit Unterschieden erschaffen hat, damit wir voneinander lernen.

Diese Herausforderung müssen wir gerade mit Blick auf die deutsch-türkischen Verhältnisse und angesichts der vielen Menschen, die gleichzeitig mit beiden Ländern untrennbar verbunden sind, annehmen und ihr gerecht werden. Die aktuelle, sehr ernste Nachrichtenlage macht deutlich, dass wir an dieser Stelle noch viele Versäumnisse haben und Fehler begehen. Der Schlüssel zu unserem gedeihlichen Zusammenleben ist jedoch gegenseitiges Vertrauen. Dort, wo dieses Vertrauen zerrüttet wird, müssen wir mit deutlichen Worten und zügigen Schritten, wenn nötig auch mit schmerzhaften Veränderungen alles dafür tun, es wiederzugewinnen. Jeder Tag der Untätigkeit, jedes weitere Zögern und Hadern vertieft nur die Gräben des Misstrauens.