Der zuvor veröffentlichte Beitrag „Muslime in Deutschland – 10 Thesen“ ist der bislang am häufigsten aufgerufene Artikel dieser noch jungen Blogseite. Dafür danke ich allen interessierten Leserinnen und Lesern. Der Thesen-Beitrag ist in einem anderen Zusammenhang als Ausdruck einer selektiven Wahrnehmung kritisiert worden. Er befasse sich nur mit etwa 20 % der gesellschaftlichen Positionen zum Islam in Deutschland.
Ich habe diese Kritik seinerzeit zurückgewiesen und tue dies auch an dieser Stelle erneut: Der Beitrag beschreibt, was die Positionen, die mittlerweile ungezügelt von gesellschaftlichen Tabus innerhalb dieser 20 % unserer Bevölkerung kursieren, mit den restlichen 80 % machen. Wie sehr sich die gesellschaftlichen Grenzen verschieben und wie leicht es immer mehr Menschen fällt, andere Menschen auszugrenzen und aus dem Schutzbereich unserer Rechtsordnung heraus zu definieren. Ja sogar, wie immer häufiger grundlegendste Prinzipien unserer Verfassungsordnung und wie unser Verständnis von Bedeutung und Wirkung unseres Grundgesetzes auf den Kopf gestellt werden – erstaunlicherweise gerade auch durch parteipolitische Akteure, die bislang nicht im Verdacht standen, sich mit ihren Positionen außerhalb unserer Grundrechtsordnung zu bewegen.
Durch manche Ereignisse seit der Veröffentlichung der 10 Thesen habe ich mich in den darin getroffenen Feststellungen bestätigt gefühlt. Zuletzt habe ich Bilder auf meinem Facebook-Account veröffentlicht, welche die Schmierereien am Neubau der DITIB-Moschee in Hamm dokumentieren. Es ist sonst nicht meine Art, solche Fotos von Moscheeübergriffen zu veröffentlichen. Allerdings sah ich in den Aussagen, die den Schmierereien zu entnehmen waren, quasi ein Resümee meiner Thesen und der Narrative der „islamkritischen Debatte“ – also ein prägnantes Beispiel, wie aus Worten Taten werden.
Auch diese Facebook-Veröffentlichung hatte überdurchschnittlich intensive Reaktionen zur Folge. Der Inhalt dieser Reaktionen und die emotionale und geistige Haltung, die hinter zu vielen Kommentaren erkennbar wurde, veranlassen mich dazu, bei der Beschreibung der deutschen Zustände mit Blick auf den Islam eine selbstkritische Perspektive einzunehmen und nach der Analyse der gesellschaftlichen Fremdbilder über Muslime – in dem ersten „10 Thesen“-Beitrag – nun auch die problematischen Selbstbilder zu thematisieren. Hierbei spielen auch Wahrnehmungen eine Rolle, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Islam-Debatte stehen aber als Selbstbetrachtung der innermuslimischen Zustände geeignet sind, ergänzende Impulse hinzuzufügen.
Es sollen Schlussfolgerungen, Wertungen, Eindrücke, Behauptungen sein – nicht als abschließendes Urteil miss zu verstehen, sondern als Anregung zur Diskussion, vielleicht auch zum Widerspruch gemeint.
These 1 – Die ausgrenzenden Narrative zeigen auch bei Muslimen Wirkung: Konstruierte Dichotomien auf Grundlage der Wahrnehmung des Islam als „fremd“ werden zunehmend auch von Muslimen übernommen
Es gehört zu dem Standardrepertoire der antimuslimischen Debatte, die Unvereinbarkeit einer deutschen Identität mit der einer muslimischen zu proklamieren. Diese Ethnisierung muslimischer Glaubenszugehörigkeit und die dadurch konstruierte Gegensätzlichkeit von „Deutscher vs. Muslim“ wird von vielen Muslimen verinnerlicht und in ihre Selbstwahrnehmung eingebaut. So wie „der Muslim“ als Synonym des Fremden, Bedrohlichen und Gefährlichen stilisiert wird, kehren Muslime dieses Narrativ unhinterfragt in eine Abwehrhaltung gegen „den Deutschen“. Der Nazi, der Rassist, der antimuslimische Straftäter wird nicht mehr mit seiner Ideologie, seinen Vorurteilen oder seiner rechtswidrigen Tat wahrgenommen, sondern generalisierend als „der Deutsche“ markiert. Somit wird eben jene Haltung gespiegelt, die Muslime häufig als unberechtigte Distanzierungserwartung zurückweisen. So wenig, wie der muslimische Extremist stellvertretend für das Denken und Handeln der muslimischen Mehrheit steht, so wenig kann eine antimuslimische Haltung als Prädikat des „Deutschen“ formuliert werden.
Aber richtig ist auch: Je stärker Deutschland als exklusiver Raum definiert wird, umso stärker begreifen Muslime den Ort, an dem sie geboren worden sind, an dem sie leben, als fremdes Territorium – mit allen verheerenden spirituellen Wirkungen einer solchen Selbstentfremdung, einer self-alienation.
These 2 – Es gibt ein ethno-chauvinistisches, militant-nationalistisches Potential auf allen Seiten der Debatte
Mit der zunehmenden Ethnisierung und Politisierung der „Islam-Debatte“ driftet der gesellschaftliche Diskurs immer weiter weg von der tatsächlich gelebten, praktizierten islamischen Wirklichkeit, hin zu Ersatzdebatten über Identitäten, die alles andere als religiös definiert werden. Das Feld des (scheinbar) religiösen Diskurses ist okkupiert von ethnisch-nationalen Wagenburgen, die – um einen populären Begriff zu verwenden – postfaktisch nur noch von einer gefühlten Wahrheit angetrieben werden. Ihre verschwörungstheoretische Grundüberzeugung, als letzte Verteidigungslinie der eigenen Identität in einer medial manipulierten Welt nur noch von Feinden umgeben zu sein, eint die sich als Endgegner begreifenden Fronten des gesellschaftlichen Diskurses. Wobei eben dieser Begriff zu optimistisch klingt. Wir führen schon seit geraumer Zeit keinen Diskurs mehr. Das Gespräch, die Disputation, der Meinungsstreit kommen praktisch gar nicht mehr vor. Argumente werden durch Emotionen ersetzt. Nationale Symbole dienen als Gefäß und gleichzeitig als Verstärker für eruptiven Trotz, für eine simulierte Stärke der eigenen Position, die nur noch durch Phrasen und Parolen artikuliert werden kann. Bereitschaft zum Zweifel, zur Nachfrage, zur Aufforderung nach Erläuterung und Präzisierung kann es in einer solchen Konstellation nicht mehr geben. Jede Einschränkung, jeder noch so zaghafte Widerspruch wird als Feindseligkeit wahrgenommen – und als erneute Bestätigung der eigenen Bedeutung und Legitimation. Dresden und Deutz sind einander reflektierende Phänomene.
These 3 – In einer Atmosphäre des ausschließlichen Feind-Freund-Denkens wandelt sich Fehlbarkeit zu Niedertracht, Versöhnung zu Verrat, Differenzierung zu Abtrünnigkeit, Rücksicht zu Illoyalität
Als muslimische Community müssen wir uns eine Tatsache eingestehen: Über das ganze Spektrum unserer hiesigen Existenz, von den selbstermächtigten säkular-liberal-humanistischen Reformern bis hin zu den Fundamentalapologeten einer Glaubensvorstellung, in der nur die eigene Art und Weise des Glaubens als ausschließlich gültige akzeptiert wird, befinden wir uns in einer tiefen spirituellen Krise. Den Vertretern gegnerischer Positionen wird mit Stigmatisierung und Dämonisierung begegnet. Soziales Kapital wird mit Klauen und Zähnen verteidigt, zum Preis der Denunziation von Konkurrenten. Statt inhaltlicher Konfrontation, wird viel zu oft der Weg der heimlichen oder öffentlichen Verleumdung beschritten.
Jeder Fehler, jede irrige Position, jede noch so kleine kritikwürdige Angriffsfläche wird mit einer Kaskade empörter Vulgarität eingedeckt. Da empfängt eine Moschee in Baden eine Besuchergruppe, in der eine Dame mit einem für einen Gebetsraum unangemessen kurzen Rock mitläuft. Sicher hätte man sie darauf aufmerksam machen können, ihr vielleicht die Möglichkeit einer Bedeckung anbieten können. Aus Unaufmerksamkeit oder Nachlässigkeit mag das nicht geschehen sein.
Was danach aber folgt, ist an Geschmacklosigkeit und Widerwärtigkeit kaum noch zu unterbieten: Auf verschiedenen Bildern ist erkennbar, dass es sich zweifellos um eine Besuchergruppe handelt, die an einer Führung durch den Moscheeraum teilnimmt. Dabei nimmt die Gruppe vorübergehend eine Position vor der Gebetsnische ein, die sich an dem Muster auf dem Gebetsteppich orientiert. So wie man als Besucher einer Kirche sich auf die Kirchenbänke setzt, um den Raum aus der Perspektive von Kirchgängern wahrzunehmen, stellt sich die Gruppe in zwei Reihen vor der Gebetsnische auf, um den Blickwinkel von Gemeindemitgliedern nachzuempfinden. Auf einer anderen Aufnahme ist deutlich zu sehen, wie die Besucher den Ausführungen des Moscheeführers folgen.
Im Internet wird aber die gleiche Situation mit einem Bild veröffentlicht, welche die Gruppe von hinten zeigt und der Eindruck erweckt, es handele sich um eine Gruppe, die sich zum Gebet aufgestellt hätte – inklusive der Dame mit dem Minirock. Es folgen hunderte Kommentare und Vervielfältigungen der Aufnahme, begleitet mit widerwertigsten Tiraden gegen den Moscheevorstand und die DITIB, als Dachverband der Moschee. Die Schmähungen reichen von Glaubensabfall der gesamten Religionsgemeinschaft bis zu übelsten persönlichen Anfeindungen. Ton und Inhalt der Äußerungen sind derart niveaulos, dass nicht nachvollzogen werden kann, wie man mit einer solchen Sprache meint, den Islam „verteidigen“ zu können.
Dieser Einzelfall steht exemplarisch für eine hochproblematische Entwicklung: Der Mangel an Differenzierungsvermögen und die Unfähigkeit, einen Sachverhalt in vielschichtiger Weise zu durchdringen, führen zu beschränkten, zweidimensionalen Reaktionsmustern – möglich sind nur noch absolute Verherrlichung oder endgültige Verdammung.
These 4 – Der muslimischen Community fehlt die Diskussion über die Essenzialien der Religion
Weite Teile der muslimischen Community haben sich im Hadern über Zeit und Ort ihrer Existenz verloren. Manche schwelgen in der Idealisierung einer Vergangenheit, die sie verklären und romantisieren, in die sie sich versuchen zurück zu versetzen, die ihnen die Illusion vermittelt, gegenwärtige Unzulänglichkeiten und Schwächen durch Machtphantasien und der Wiederbelebung vergangener Größe und Stärke überwinden und kompensieren zu können.
Andere wiederum wähnen sich am falschen Ort gestrandet, idealisieren andere örtliche Lebensumstände, entfremden sich von ihrem tatsächlichen Lebensmittelpunkt durch den Rückzug in Diskussionen, die nichts mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun haben.
Die Annahme, am falschen Ort oder zur falschen Zeit zu existieren, offenbart ein hochproblematisches Verhältnis zur eigenen Religiosität. Eine solche Haltung negiert die Sinnhaftigkeit, die Zweckbestimmung der eigenen Existenz. Sie verstellt den Blick dafür, dass nicht die Zeit und der Ort der eigenen Existenz in Frage gestellt werden muss, sondern der Zustand, in dem man sich befindet. Konkreter, der Zustand mit dem man sich der örtlichen und zeitlichen Bestimmtheit des eigenen Lebens nähert.
Es fehlt – in der ganzen Breite der muslimischen Community – eine Antwort auf oder auch nur eine Diskussion über diese buchstäblich existenziellen Grundfragen islamischen Lebens. Wohin man blickt, geht es darum, wie man als Muslim in Deutschland lebt. Welche Sprache man spricht, welche Riten man einhält, welche Auffassung man vertritt, wie man aussieht, welche Verse man liest, wie man sie interpretiert oder interpretieren soll. An einem Rand konzentriert man sich darauf, wie der Offenbarungstext als Grundlage des Glaubens angeblich verändert werden muss, damit islamisches Leben gelingen kann. Am anderen Rand wird der Imperativ „lies!“ – und damit ein Rückzug in die Nachstellung textlicher Schilderungen – zum Heilsangebot verklärt. Quasi ein muslimisches Reenactment als Sehnsucht einer immer wiederkehrenden Rekonstruktion idealer Lebens- und Glaubensvorstellungen.
Derweilen beschäftigt sich die muslimische Mitte mit einer Religionsfolklore ohne geistige Auseinandersetzung um die Frage, warum wir Muslime in Deutschland leben, was der Grund unserer Existenz ist, welche Bedeutung die erlebten gesellschaftlichen Schwierigkeiten für unseren Glauben haben.
Die entscheidende Frage ist aber: Was haben wir als Muslime beizutragen zu dem gesellschaftlichen Leben in Deutschland?
Die liberal-reformatorische Szene glaubt an die „Einbürgerung des Islam“ sobald er keine Herausforderungen, keine Zumutungen mehr verursacht. Die fundamentalistische Szene empfindet die schöpfungsbedingte Selbstverständlichkeit der permanenten Veränderung und den stetigen Lauf der Zeit als Herausforderung. Dazwischen hat die große muslimische Mitte jedes Gespür dafür verloren, dass sie islamischem Leben nicht nur einen Raum mit der korrekten Gebetsrichtung bieten muss. Wo bleiben die Diskussionen um die religiösen Grundbegriffe im Hier und Jetzt? Wo bleibt der geistigen Kompass, die religiöse Orientierung, die korrekte Lebensrichtung in den konkreten Bedingungen unserer hiesigen Lebenswirklichkeit? Wenn aber selbst die auf den ersten Blick als vollkommen unislamisch zu beschreibende Dichotomie „Deutscher vs. Muslim“ von Muslimen adaptiert, statt entlarvt wird (siehe These 1), was bleibt dann von der Religion Allahs außer einem in spirituellen Wüsten verlorenen Stammesglauben?
These 5 – Die Diskussion um muslimische Einheit wird unter falschen Voraussetzungen geführt
In diesem Blog ist wiederholt die Sehnsucht nach muslimischer Einheit und die kritische Auseinandersetzung mit dem Einheits-Verständnis thematisiert worden. Interessierte mögen entsprechend die älteren Texte nachlesen. Dass die dortigen Gedanken nicht zu öffentlicher Gegenrede aus der muslimischen Community geführt haben, deutet auf das eigentliche Problem hin. Die Debatten drehen sich stets nur um die äußere Form der erstrebten Einheit, um die Institutionalisierung einer muslimischen Einheit als Ersatz für ihre Substantiierung. Im Grunde setzt sich hier die Problematik fort, welche in These 4 beschrieben wurde. Alle Mühe konzentriert sich auf das Gefäß einer Einheit, von der völlig unklar ist, mit welcher einheitlichen Essenz sie gefüllt werden soll.
These 6 – Die liberale oder säkulare oder humanistische „Reform“ des Islam ist auch keine Lösung
Die Apologeten einer Reform des Islam sind allein schon ihrer personellen Aufstellung nach völlig ungeeignet, einen authentischen Impuls in die Islam-Debatte zu geben. Die Szene ist durchdrungen von unterschiedlichsten Interessen – außer einem praktischen Beitrag zum gelebten Islam. In ihr tummeln sich Akademiker, die die Existenzberechtigung islamischer Religionsgemeinschaften negieren, Nichtmuslime, die sich einen legitimeren Vertretungsanspruch zuschreiben, als der gemeindlichen Selbstorganisation von Muslimen, muslimische Avantgardisten, welche die Atomisierung muslimischen Gemeindelebens als Fortschritt anpreisen, flankiert von nichtmuslimischen Parteipolitikern, die „muslimische Forderungen“ mitgestalten, um sie anschließend öffentlich religionspolitisch zu kommentieren.
Auffällig ist der gemeinsame Nenner innerhalb dieser Szene, in der bereits untereinander Abgrenzungskonflikte darüber entbrannt sind, wer die soziale Marke „liberale Muslime“ für sich beanspruchen darf: Es geht in den Forderungen im Wesentlichen immer wieder nur um die Reklamation einer gesellschaftlichen Relevanz, die stets Behauptung bleibt, keine gemeindliche Grundlage hat und sich in der Rolle als Ansprechpartner für den Staat erschöpft. Im tatsächlichen, regelmäßigen Einsatz für eine Moscheegemeinde hat man bislang keinen der Akteure gesehen.
Die inhaltlichen Positionen dieser Szene manifestieren sich nicht in praktischen Angeboten eines alltäglichen muslimischen Gemeindelebens. Die von ihnen in der historisch-reformatorischen Tradition der Kirchenbeschimpfung stigmatisierten islamischen Religionsgemeinschaften kümmern sich zumindest um die Ermöglichung eines praktizierten Islam, um die Schaffung von Angeboten einer gemeindlichen Begegnung und eines kollektiven religiösen Lebens, das dem Einzelnen die religiöse Begleitung von der Geburt bis in den Tod ermöglicht. Das ist mehr praktische Verantwortung, als die Reform-Szene bislang zu tragen gewillt war.
Statt dem Mainstream der Muslime gebetsmühlenartig vorzuhalten, wie vermeintlich rückständig und modernisierungsbedürftig ihr Islamverständnis doch sei, wäre es glaubwürdiger, sie würden mit praktischem Beispiel vorangehen und vorleben, wie in der kollektiven Gemeindewirklichkeit ihr öffentlich sehr vage skizziertes Islamverständnis umgesetzt wird. Der Theorie folgend, die Reform-Szene vertrete die schweigende Mehrheit der nicht verbandlich organisierten Muslime in Deutschland, müsste ein solches Angebot erheblichen Zuspruch erfahren. Bleibt dann nur noch die Frage zu klären, warum der Islam überhaupt reformiert werden muss, wenn doch die schweigende Mehrheit genauso denkt und glaubt, wie die Reform-Szene und nur eine kleine Minderheit der Muslime bei den vermeintlich rückständigen Verbänden organisiert ist?
These 7 – Es fehlt der muslimischen Community an innerer Solidarität
Nie war es so leicht, gesellschaftlich aktive Muslime im öffentlichen Ansehen herabzusetzen und so aus öffentlichen Diskursen auszuschließen. Dies gilt für Einzelpersonen genauso wie für islamische Religionsgemeinschaften. Mit dem Islam wird gegenwärtig derart viel Negatives assoziiert, dass die Übernahme einer dieser Merkmale auf den „Gegner“ ausreicht, um ihn zu disqualifizieren.
Bei der Auseinandersetzung mit diesem Phänomen ist die Hoffnung auf innermuslimische Unterstützung vergebens. Weder auf institutioneller, noch auf individueller Ebene kann man mit öffentlicher Solidarität rechnen. Zu fragil ist das soziale Kapital muslimischer Einzelpersonen, die jederzeit selbst mit den gleichen Praktiken unter Feuer genommen werden könnten. Auf institutioneller Ebene wiederum scheinen die Verwundungen der Vergangenheit noch so zu schmerzen, dass mit dem Hinweis auf frühere negative Erfahrungen ausbleibender Solidarität nun die eigene faktisch verweigert wird – ein Teufelskreis, in dem man sich aber aufrichtig darüber wundert, warum „Einheit“ nicht gelingen will.
These 8 – Die Nähe zur Politik und zum politischen Diskurs entkernt die islamischen Religionsgemeinschaften
Je mehr islamische Religionsgemeinschaften sich auf Fragen des religionsverfassungsrechtlichen Status konzentrieren, umso mehr geraten sie in Gefahr, ihre spirituelle Vitalität zu verlieren. Die inhaltliche Fähigkeit, neue gedankliche Impulse in das religiöse Leben der Muslime einzuspeisen, erodiert ohnehin schon (siehe These 4). Die Beschäftigung mit Fragen der verfassungsrechtlichen und damit auch gesellschaftspolitischen Anerkennung führt zu weiteren Konflikten bei Aspekten der religiösen Deutungshoheit und der Teilhabe bei gemeinsamen Angelegenheiten zwischen Religionsgemeinschaften und dem Staat. Die Religionsgemeinschaften müssen Diskussionen führen – gerade auch öffentlich –, welche der Staat und die Politik aus wahltaktischen Gründen nicht immer zu führen bereit sind. Die diskursive und mediale Macht ist derart asymmetrisch verteilt, dass bei Meinungsverschiedenheiten am Ende islamische Religionsgemeinschaften öffentlichen Schaden nehmen. Dabei ist auch anhand jüngster Erfahrungen festzustellen, dass staatliche Stellen sogar in Kauf nehmen, islamische Religionsgemeinschaften wider besseres Wissen in die Nähe zu extremistischem Gedankengut zu rücken – und das ausgerechnet durch eine unvollständige und damit falsche behördliche Informationspolitik.
Deshalb darf die Statusfrage nicht zum Zweck der Existenz islamischer Religionsgemeinschaften werden – die eigene religiös-inhaltliche Aufstellung und Fortentwicklung muss die Priorität muslimisch-institutionellen Handelns sein, wollen sie am Ende nicht zu staatlich anerkannten Turnvereinen verkümmern. Die Statusfrage ist weniger für die islamischen Religionsgemeinschaften eine Herausforderung. Sie ist vielmehr eine demokratische Reifeprüfung für unser Land und staatliche Stellen. Sind wir so gefestigt in unserem demokratischen Gemeinwesen, dass wir auch islamischen Religionsgemeinschaften ihre ihnen zustehenden religionsverfassungsrechtlichen Ansprüche zugestehen? Sind wir davon überzeugt, dass auch islamische Religionsgemeinschaften zu den unverzichtbaren, nichtstaatlichen Körperschaften gehören, die als zivilgesellschaftliche Regulierungskräfte eben jene Werte und Inhalte hervorbringen, die der demokratische Staat selbst nicht in der Lage ist, zu schaffen? Und hier vervollständigt sich der Kreis: Die letzte Frage wird nur zu bejahen sein, wenn sich die islamischen Religionsgemeinschaften mit ihren religiösen Inhalten in diese Gesellschaft einbringen. Die politische und verfassungsrechtliche Diskussion um Statusfragen allein wird nicht reichen.
These 9 – Es bedarf einer Revitalisierung des islamischen Denkens praktizierender Muslime
Die Seichtigkeit reformatorischer Ansätze macht deutlich, dass öffentlicher Lärm ohne praktische, authentische Bezüge ins muslimische Gemeindeleben nur eine Anhäufung von immer gleichen Zwischenrufen bleiben wird. Aus einer Kakophonie apodiktischer Parolen wird nichts Fruchtbares für das islamische Leben in Deutschland hervorgehen.
Andererseits ist auch der Zustand muslimischer Selbstorganisationen noch belastet von einer Generation der Sachwalter, der immer freundlichen, immer vornehm lächelnden Diplomaten des Glaubens, die den Herausforderungen des muslimischen Lebens in Deutschland dauerhaft fremd geblieben sind. Von ihnen ist kein offener, kein leidenschaftlicher Einsatz für eine Diskussion über die Grundlagen islamischer Glaubenswirklichkeit in Deutschland zu erwarten. Auf all jene, die mehr Gewissheiten als Fragen mitbringen, können sich Muslime nicht verlassen, wenn sie Diskussionen über das Warum und das Wie ihres muslimischen Lebens angesichts der immer größeren Herausforderungen unserer Gesellschaft führen wollen.
Ein Patentrezept wird es auch an dieser Stelle nicht geben. Sicher ist nur, dass keine der etablierten Institutionen für sich allein eine Lösung wird anbieten können. Zu groß sind die individuellen Schwächen und Defizite bei allen Beteiligten. Nur wenn man gewillt ist, sich darauf einzulassen, dass eigene Schwächen durch die Stärken anderer ausgeglichen werden, dass eigene Irrtümer durch die Argumente des Anderen korrigiert werden, kann so etwas wie eine geschwisterliche Unterstützung zur Realität werden. Der Weg zur Einheit führt über das Eingeständnis eigener Unvollkommenheit – gegenwärtig ist das für viele ein noch zu steiler Weg.
These 10 – Let the Shitstorm begin!