Am 2. Juni wird aller Voraussicht nach im Bundestag die Vertreibung der Armenier aus Anatolien – anlässlich der Abstimmung über eine Resolution – als Völkermord bezeichnet werden.
Die öffentlichen Positionierungen aus den Lagern der Befürworter und der Gegner dieser Resolution machen deutlich, welchen höchst destruktiven Punkt diese Debatte erreicht hat. Dabei hindert die erregte Auseinandersetzung um die juristische Einordnung der historischen Ereignisse den Blick für die wichtigeren Bedürfnisse der durch diese Ereignisse miteinander auf tragische Weise verwobenen Menschen.
Machen wir uns nichts vor. Die Leidenschaft, mit der die Grünen – allen voran Cem Özdemir – dieses Anliegen verfolgen, kann angesichts der öffentlichen Statements nicht mehr als aufrichtiges Bemühen um Aufarbeitung historischer Ereignisse begriffen werden. Vor allem Cem Özdemir hat sich mittlerweile heillos in einer Klientelpolitik verloren, in der er mit revanchistischer Verblendung auf alles einschlägt, von dem er glaubt, es würde die türkische Regierungspolitik und insbesondere den türkischen Staatspräsidenten Erdogan treffen. Die Grünen haben unter der Führung Özdemirs klar Partei ergriffen im innertürkischen politischen Machtringen und ignorieren dabei, dass sie gewählt wurden, um Politik für die Menschen hier in Deutschland zu machen – übrigens auch für die türkischstämmigen Menschen.
Statt sich den Menschen hier in unserem Land zu widmen, ihre Ansichten und Sorgen wahrzunehmen, betreibt Cem Özdemir lieber eine persönliche Vendetta gegen die türkische Regierungspolitik. Und zwar auf dem Rücken der hier lebenden Menschen und unter Instrumentalisierung seiner parteiinternen Position und leider auch so ernster und schwieriger Themen, wie die Vertreibung der Armenier aus Anatolien.
Die armenische Gemeinde in Deutschland wäre gut beraten, sich ihre politischen Verbündeten sorgfältiger auszusuchen. Denn unter der gegenwärtigen Konstellation wird das Andenken an die Leiden des armenischen Volkes für plumpen politischen Revanchismus missbraucht und damit entwürdigt. Diesen Preis sollte allen voran die armenische Gemeinde in Deutschland nicht bereit sein, zu zahlen.
Das sind die höchstproblematischen und unwürdigen Vorbedingungen, unter denen man gegenwärtig genötigt ist, sich des eigentlichen Themas anzunehmen. Die juristische Kategorisierung der historischen Ereignisse trägt dabei nicht den Hauch eines konstruktiven Gehalts in sich. Die Allgemeinheit besteht nicht mehrheitlich aus Experten des Völkerrechts. Für sie ist die Diskussion um völkerrechtliche Tatbestandsmerkmale völlig unergiebig.
Faktisch trägt eine politische Resolution, wie sie jetzt im Bundestag beabsichtigt ist, zu dieser juristischen Debatte nichts bei. Erst in jüngster Vergangenheit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte deutlich formuliert, dass die Einordnung der historischen Ereignisse als Völkermord auch durch öffentliche Meinungsäußerungen angezweifelt werden darf. Entgegenstehende Verbotsgesetze sind menschenrechtswidrig.
Im Ergebnis wird also eine entsprechende Resolution des Bundestages auch zukünftig in ihrem sachlichen Gehalt angezweifelt werden. Eine Annäherung und Aufarbeitung der türkisch-armenischen Beziehungen wird dadurch nicht ermöglicht. Denn durch diese politische Instrumentalisierung konzentriert sich die öffentliche Debatte erneut auf juristische Termini, ohne die dahinter verborgene Tragik der menschlichen und historischen Konstellationen auch nur sichtbar werden zu lassen.
Leider sind auch die unmittelbar betroffenen Lager, die armenische Gemeinde in Deutschland, wie auch die türkischstämmigen Vereine und Gemeinschaften von dieser fehlgelenkten juristischen Debatte so eingenommen, dass sich die Kommunikation letztlich in einer apodiktischen Verteidigung von Rechtspositionen erschöpft – ohne den sensiblen Bereich der wechselseitigen Empathie auch nur ansatzweise herauszufordern.
Zwischenmenschlicher Frieden tritt durch eine solche Auseinandersetzung um das buchstäbliche Recht(haben) nicht ein. Und es verstellt auf Dauer – jetzt wahrscheinlich auch noch bundespolitisch-parlamentarisch zementiert – die Möglichkeit zu einer Annäherung.
Denn worauf kommt es der armenischen Seite an? Was treibt Generationen auch über 100 Jahre nach den historischen Ereignissen so vehement dazu an, auf eine Anerkennung völkerrechtlicher Begriffe zu insistieren? Warum ist das für die armenische Seite so wichtig? Was ändert sich an den historischen Ereignissen, an dem Leid, an den vielen in Mitleidenschaft gezogenen familiären Biografien?
Beim Versuch einer empathischen Annäherung an diese Position muss konstatiert werden, dass es der armenischen Seite um Anerkennung des erlittenen Leids geht. Um das Eingeständnis, Unrecht erfahren zu haben. Um das Nachempfinden, Heimat verloren zu haben. Vielleicht auch um die Einforderung von Reue auf türkischer Seite, dieses Leid verursacht zu haben.
Im Versuch, diese Motive nachzuempfinden, muss aber gleichzeitig festgestellt werden, dass die völkerrechtliche Einordnung der historischen Ereignisse stets nur die Wirkung einer möglichst absoluten Feststellung immer nur durch Dritte impliziert, ohne dem eigentlichen Adressaten – der türkischen Öffentlichkeit nämlich – auch nur einen Moment des Innehaltens und des empathischen Verstehen-Wollens abzuringen.
Das mag auch der Grund dafür sein, warum nach mehreren parlamentarischen Resolutionen weltweit, die dem armenischen Ansinnen entsprechend von einem Völkermord ausgehen, dem armenischen Wunsch nach Anerkennung des erlittenen Leids offenbar immer noch nicht Genüge getan ist. Ja, nicht getan sein kann. Selbst wenn alle Länder der Welt, bis auf die Türkei, eine entsprechende Resolution verabschiedeten, wäre dem armenischen Wunsch nach Anerkennung des Unrechts, nach Gehört-Werden mit seiner Klage, nicht entsprochen worden.
Denn es ist völlig gleichgültig, wie viele Länder, wie viele Parlamente von einem Völkermord ausgehen. Die armenische Seite wird erst so etwas wie Verarbeitung und Versöhnung empfinden können, wenn die türkische Seite ein solches Anerkenntnis äußert. Und gerade in diesem Punkt ist die alleinige Konzentration auf völkerrechtliche Begriffe hinderlich.
Denn – und das ist die bislang völlig ungehört gebliebene Seite der Geschichte – das gleiche Unrecht, das gleiche Leid hat auch die türkische Seite erfahren. Die Mehrheit der türkischstämmigen Menschen bleibt öffentlichen Demonstrationen zu diesem Thema fern. Nicht weil sie den Vorwurf des Völkermords für berechtigt halten. Sondern, weil ihnen der Missbrauch des Themas für nationalistische Parolen unangenehm ist. In der Sache haben sie gleichwohl eine ebenso deutliche, ablehnende Haltung zu der geplanten Resolution des Bundestages. Und diese Ablehnung speist sich nicht aus Verblendung oder Verleugnung oder „offizieller Geschichtsschreibung“. Sie hat ihre Wurzeln in ebenso lebendigen, ebenso quälenden Erinnerungen und Familiengeschichten, wie sie von armenischer Seite vorgetragen werden. Mit dem Unterschied, dass niemand diesen Erinnerungen Gehör schenkt.
Die Vertreibung der Armenier aus Anatolien hat keinen ideologischen Hass oder keine jahrhundertelang genährte Feindbildkonstruktion zur Ursache. Sie ist das Ergebnis eines historischen Prozesses, der in seiner Tragik immer nur einseitig wahrgenommen wird. Im zerfallenden Osmanischen Reich hat der Nationalismus das Konzept der friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Volksgruppen und Glaubensgemeinschaften erodieren lassen. Dieser aufkommende Nationalismus hat zum Verlust der als Stammland, als eigentliche Kernheimat des Osmanischen Reichs begriffenen Regionen geführt.
Noch lange bevor Istanbul 1453 erobert wurde, war die Ägäis, die Peloponnes, das heutige Serbien, Albanien, Bulgarien angestammtes Kernland des Osmanischen Reiches. Dieses über 400 Jahre muslimisch besiedelte Gebiet war viel mehr osmanische Heimat, als Zentral- oder Ostanatolien, das eher zum Hinterhof des osmanischen Selbstverständnisses gehörte.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sind all diese Regionen verlorengegangen. Was ist aus den muslimischen Bevölkerungsgruppen geworden, die diese Regionen über 10 Generationen hinweg bewohnt haben? Wie viele Muslime, wie viele Moscheen gibt es heute noch in Belgrad, in Sofia, in Athen? Nahezu jede türkischstämmige Familie hat Vorfahren, die eine Geschichte der Verfolgung und Vertreibung nacherzählen konnten und als schmerzliche Erinnerung an eine verlorene Heimat an die jeweils nachfolgende Generation weitergegeben haben.
Meine Familie mütterlicherseits ist aus den Provinzen des Osmanischen Reiches vertrieben worden, die heute den Nationalstaat Albanien bilden. Mein Urgroßvater väterlicherseits, Bayram Ağa, ist zusammen mit seiner Familie und allen seinen muslimischen Nachbarn aus Kreta vertrieben worden. Das Abschiedsfoto, aufgenommen mit den männlichen Oberhäuptern der muslimischen Familien seines Heimatortes kurz vor der Vertreibung, hängt heute in meinem Büro.
Wie sie sind Millionen von Menschen vom Balkan, von der Krim und vom Kaukasus nach Zentralanatolien vertrieben worden. Millionen haben Hab und Gut, und Millionen haben ihr Leben verloren. Dies geschah zu einer Zeit, zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als die Armenier durch das Osmanische Reich noch als „treues Volk“, als loyale Untertanen, geehrt und ausgezeichnet wurden, weil sie anders als die nichtmuslimischen Volksgruppen des Balkan nicht der nationalistischen Versuchung erlegen sind. Als dann russische Truppen den Osten der heutigen Türkei verwüsteten, erstarkte auch die armenische Unabhängigkeitsbewegung. Und sie hatte zwei große Nachteile im Vergleich zu den nationalistischen Bewegungen der Balkanvölker.
Erstens kam sie historisch zu spät, nämlich zu einer Zeit, in der es keinen Hinterhof mehr gab, in welchen die muslimische Bevölkerung hätte fliehen können und in der Zentral- und Ostanatolien als letztes Refugium der muslimischen Bevölkerung fungierte. Und zweitens hatte sie den Nachteil, dass in dem als Nationalterritorium betrachteten Gebiet die armenische Bevölkerung im Vergleich zu der muslimischen Bevölkerung deutlich in der Minderheit war. Umso drastischer und gewalttätiger musste dieses Verhältnis durch „ethnische Säuberungen“ umgekehrt werden. Massive Übergriffe, Gewalttaten und systematische Abschreckung der muslimischen Bevölkerung waren die Folge. Und dies ist nicht die Version einer „politischen Geschichtsschreibung“. Es sind die Erfahrungen und Erlebnisse der angestammten muslimischen Bevölkerung. Nahezu jede muslimische Familie, die in dieser Region familiäre Wurzeln hat, kann über Opfer in der eigenen Familiengeschichte berichten. Die Dokumente und Belege dieser historischen Ereignisse sind ebenfalls vorhanden, leider ohne dass sich eine Bundestagsfraktion dafür interessieren würde.
Die Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus Anatolien hatte diesen historischen Hintergrund. Sie ist verbunden mit unermesslichem Leid und Verzweiflung der betroffenen Menschen und Familien. Es ist das gleiche Leid und die gleiche Verzweiflung, die muslimische Menschen und Familien nicht nur in der gleichen Region und nicht nur in den gleichen Jahren erlebt haben. Dieses Leid hatte eine dramatische Vorgeschichte und setzte sich auch dann fort, als armenische Verbände wenige Jahre nach der Vertreibung der armenischen Zivilbevölkerung im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zusammen mit französischen und britischen Besatzungstruppen in den Südosten der heutigen Türkei eindrangen. Zu einer Zeit, als griechische Besatzungstruppen angetrieben von der „Megali Idea“, dem Traum von einem Groß-Griechenland, in die gesamte Ägäisregion und bis nach Zentralanatolien vordrangen.
Die Familie meines anderen Urgroßvaters väterlicherseits musste von seinen griechischen Nachbarn versteckt werden, als griechische Truppen Izmir besetzten und schrecklich unter der muslimischen Zivilbevölkerung wüteten. Drei Jahre später, bei der Befreiung Izmirs durch türkische Truppen, musste wiederum er seine griechischen Nachbarn vor Racheakten der türkischen Bevölkerung verstecken. Im gleichen Jahr wurde er, Ibrahim Raci Efendi, der erste Bürgermeister Bornovas, heute ein Vorort Izmirs.
Die Geschichten der Millionen von Menschen, die in diesen ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf dem Balkan und im Westen und Osten der heutigen Türkei schweres Leid ertragen mussten, bleiben bislang stumm und ungehört. Niemand interessiert sich dafür, ob dies ein Völkermord war. Kein Autor schreibt Romane darüber. Kein Regisseur dreht Filme über den Verlust dieser Menschen.
Vor diesem historischen Hintergrund – der immer nur einseitig und selektiv wahrgenommen wird –, ist der Streit um völkerrechtliche Begriffe eine emotionale Nichtkommunikation. Wenn die armenische Seite 1,5 Mio. Opfer beklagt und die Anerkennung dieses Leids einfordert, muss sie bereit sein einzugestehen, dass in der gleichen Region und in der gleichen historischen Epoche mindestens genauso vielen muslimischen Menschen – wahrscheinlich ist deren Zahl sogar noch höher – eben die gleichen Leiden, das gleiche Unrecht zugefügt wurde. Und dass die armenische Nationalbewegung nicht unerhebliche Verantwortung hierfür trägt.
Erst mit der Bereitschaft, menschliches Leid nicht einseitig zu würdigen, sondern zu erkennen, dass dieses Leid die Geschichte vieler Familien unwiderruflich miteinander verbindet, wird es möglich sein, den menschlichen Verlust nachzuempfinden, den alle Bevölkerungsgruppen damals erfahren mussten. Wenn es eine Annäherung und eines Tages eine Aussöhnung zwischen Armeniern und Türken geben soll, muss über diese Erfahrungen gesprochen werden. Gemeinsam, miteinander. Ohne einseitige Kategorisierung dieser Ereignisse.
Hierzu gehört die Bereitschaft, dem anderen auch zuhören zu wollen, seinen Verlust und den Schmerz dieser Erfahrung nachzuempfinden. Wenn das irgendwann gelingen sollte, dürfte die Frage der völkerrechtlichen Einordnung nicht mehr wichtig sein. Die türkische Seite stellt diese Fragen jedenfalls heute weder auf dem Balkan, noch in Ostanatolien.
Der deutsche Bundestag wird aber am 2. Juni mit seiner durch grüne Klientelpolitik betriebenen Resolution Gebirge der völkerrechtlichen Schuldzuweisung, unüberwindliche Gipfel der Ignoranz gegenüber dem Leid der türkischen Seite errichten und damit eine emotionale Annäherung, eine Bereitschaft, der Leidensgeschichte des anderen zuzuhören, den anderen als Mensch mit gleicher historischer Erfahrung wahrzunehmen, auf Jahre hinaus verhindern. Um es mit einem armenischen Sprichwort zu sagen: „Berg und Berg kommen nicht zusammen, aber Mensch und Mensch.“