Das hat was mit uns Muslimen zu tun

Nach dem grausamen Mordanschlag in Frankreich ist es still geblieben in der muslimischen Verbandslandschaft in Deutschland. Gab es irgendeinen muslimischen Dachverband, der sich öffentlich in einer Stellungnahme oder Pressemitteilung zu Wort gemeldet hat? 

Auf Bundesebene waren keine solchen Veröffentlichungen wahrzunehmen. Der Ditib Landesverband Hessen war wahrscheinlich einer der wenigen muslimischen Verbände, der sich die Mühe zu einer öffentlichen Positionierung gemacht hat. Im Bundesverband der Ditib in Köln hat man das wohl als ausreichendes Maß der öffentlichen Stellungnahme erachtet.   

Außer spärlichen Tweets oder Facebook Postings war nichts zu lesen oder zu hören. Selbst das Wenige, das zu beobachten war, folgte einer Dramaturgie, die mittlerweile zunehmend als eingeübte, ritualisierte Betroffenheitsfolklore wirkt. Fast schon genervt klangen diese Erklärungen. Man habe doch all die Jahre jetzt immer und immer wieder erklärt, dass solche Taten nichts mit dem Islam zu tun haben und man sie natürlich verurteilt. Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt usw., usw. 

Und außerdem nehme man an Präventionsprojekten teil und unterstütze die Radikalisierungsprävention. Im Grunde seien die Moscheen selbst die besten und wirksamsten Stätten der Deradikalisierung. Schließlich fliegt da – jedenfalls in Deutschland – keiner in die Luft und Jugendliche, die regelmäßig den Imamen bei deren Predigt lauschen, werden nie gewalttätig. 

Am Ende des Tages bedeutet Islam Frieden und wer andere Menschen umbringt, kann im Grunde nicht als richtiger Muslim durchgehen. Die Täter sind also Fremde, die – Allah allein weiß weshalb – plötzlich auf die Idee kommen, anderen die Kehle durchzuschneiden. 

Die gleiche Logik wenden die muslimischen Verbände an, wenn es um das Thema antischwarzer Rassismus oder Antisemitismus unter Muslimen geht: Der Islam verbietet Rassismus. Deshalb kann kein Muslim Rassist oder Antisemit sein. Was schon durch die Tatsache bewiesen ist, dass der osmanische Sultan im 15. Jahrhundert die sephardische Juden vor den spanischen Katholiken gerettet hat.

Warum reicht die vor 500 Jahren demonstrierte Toleranz eigentlich nicht aus, um die letzten Zweifler davon zu überzeugen, dass man heute einfach nicht mehr machen kann, als Gewalttätern die Zugehörigkeit zur eigenen Glaubensgemeinschaft abzusprechen? Diese Haltung ist nicht nur in den muslimischen Verbänden, sondern unter Muslimen allgemein weit verbreitet.

Der Verfasser dieses Blogs hat schon spätere (muslimische) Antidiskriminierungsbeauftragte erlebt, die noch kurz vor dem beruflichen Aufstieg der festen Überzeugung waren, die Beleidigung als „Scheißjude“ sei von muslimischen Jugendlichen gar nicht antisemitisch gemeint. Ebenso hätte im Streit auf dem Pausenhof auch die Beleidigung „Hurensohn“ fallen können. Die der Jugend geschuldete mangelnde Kreativität des gossensprachlichen Repertoires werde durch die antimuslimischen Medien zu einem Problem aufgeblasen, das es unter den qua confessio antirassistischen Muslimen gar nicht gäbe.

Mit „Scheißjude“ ist nur „Hurensohn“ gemeint

Weil also Gewalt nichts mit dem Islam zu tun hat, sind Gewalttäter auch keine richtigen Muslime. Um gemeine Straftäter kümmern sich die staatlichen Behörden mit den passenden Sanktionsmitteln. Wenn nun immer wieder und weiterhin von muslimischen Organisationen eine Stellungnahme oder Verurteilung erwartet wird, habe das etwas mit dem antimuslimischen Rassismus in unserer Gesellschaft zu tun. Die permanente, an die muslimischen Organisationen adressierte Erwartungshaltung, mehr zu tun, als das Problem nur von sich zu weisen, diene folglich der Anprangerung und Stigmatisierung der muslimischen Verbände und letztlich aller Muslime in Deutschland – ja gar weltweit. Davon ist man in den muslimischen Dachverbänden vollständig überzeugt. 

Auch die Differenzierung zwischen Islam und Islamismus sei – so die verbreitete Ansicht in den muslimischen Verbänden – viel zu schwammig und diene lediglich der absichtlichen, antimuslimisch motivierten Kontamination des Islam mit negativen Assoziationen. Am liebsten hätten es die Verbände, wenn im Zusammenhang mit extremistischen Mordanschlägen die Begriffe „Islam“, „islamisch“, „Muslim“ oder „muslimisch“ gar nicht mehr verwendet würden.  

In zwanzig Jahren der „Islam versus Islamismus“-Debatte ist es den muslimischen Verbänden jedoch nicht gelungen, alternative Begriffe in die öffentliche Diskussion einzuführen, die ihrer Analyse der Problematik eine präzisere Sprache verleihen würden. 

Die Schwierigkeit dieser Bemühungen liegt auf der Hand: Viel zu häufig berufen sich extremistische Täter auf den Islam, wenn sie ihre Mordtaten verüben. Und viel zu häufig erklären sie ihr Tatmotiv aus einer religiösen, namentlich islamischen Perspektive.   

Aber was können denn die muslimischen Verbände dafür, dass immer wieder Muslime ihre Religion falsch verstehen und zu grausamer Gewalt bereit sind, obwohl in den Moscheen der Islam so vorbildlich friedlich erklärt wird?

Das eine sind Sonntags- oder im hier vorliegenden Fall eben Freitagspredigten. Und das andere ist die vorgelebte religiös konnotierte Alltagsrealität unter Muslimen. Und dort haben die muslimischen Verbände und Gemeinschaften bis ins unterste Glied der Mitgliedsgemeinden hinein strukturelle Probleme, die entweder nicht als solche erkannt oder bewusst verdrängt werden, damit die Diskrepanz zwischen dem, was Islam sein soll und dem, was Muslime unter sich als Gesinnung dulden, nicht sichtbar wird. Die muslimischen Gemeinden haben hier ein sehr wirkmächtiges Verdrängungsproblem.

Es soll den Verbänden gar nicht abgesprochen werden, dass sie ein aufrichtiges Interesse an Präventionsprojekten haben und diese sinnvoll begleiten. Dass vor einigen Jahren auch der Begriff „Prävention“ bei den muslimischen Verbänden noch auf Ablehnung stieß, muss an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Entscheidend ist jedoch die Erkenntnis, dass Präventionsprojekte und Deradikalisierungsmaßnahmen vor allem auf potentielle Straftäter fokussiert sind. 

Kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem

Die strukturellen Probleme innerhalb der muslimischen Gemeinschaften bestehen jedoch nicht in einer grundlegenden strafrechtlich relevanten Neigung von Muslimen, sondern in Denk- und Handlungsmustern, die ein Klima der Abwertung und Hierarchisierung schaffen. Es geht also nicht darum, die Gewaltbereitschaft eines Individuums zu analysieren, sondern die Milieubedingungen, in welchen sich individuelles Verhalten stets einer kollektiven Akzeptanz, einer Duldung und Befürwortung vergewissert. 

Alle Religionen, so auch der Islam, haben ein Friedenspotential und ein Gewaltpotential. Das, was die Glaubensgemeinschaften als religiös konforme Haltung vorleben und tradieren, prägt ganz wesentlich die Frage, zu welchem dieser Entwicklungsmöglichkeiten der Weg insbesondere junger Muslime geebnet wird. 

Wenn also die muslimischen Verbandsvertreter frustriert und desinteressiert darauf hinweisen, dass das alles nichts mit dem Islam zu tun hat, müssen wir ihnen entgegnen, dass die von Muslimen verübte Gewalt sehr viel mit dem zu tun hat, was Muslime in ihren Gemeinschaften als akzeptabel dulden, was sie unterstützen, was sie nicht zum Anlass für Widerspruch nehmen, was sogar eine gemeinsame Identität fördert, was als Gemeinschaft stiftende Matrix fungiert und was das Gefühl von Zugehörigkeit festigt. 

All diese Elemente müssen nicht kumulativ vorliegen, um ihre Wirkung zu entfalten. Sie können in verschiedensten Konstellationen ein Fundament schaffen, auf welchem sich Muslime begegnen und auf welchem sie sich als Gemeinschaft erleben.

Es geht bei dieser Betrachtung nicht darum, nachzuweisen, dass Muslime aufgrund ihrer Glaubenszugehörigkeit gewaltgeneigt sind oder dass in muslimischen Verbänden Attentäter heranwachsen. Im Gegenteil bin ich mir sicher, dass es überall unter Muslimen eine Ablehnung dieser Gewalt gibt. Ich selbst schöpfe aus dem Friedenspotential meiner islamischen Religion täglich Hoffnung, Zuversicht und Demut. 

Aber ich kann nicht die Augen davor verschließen, was wir in unseren muslimischen Gemeinschaften unwidersprochen hinnehmen und als wiederkehrende Verhaltensmuster akzeptieren. Es geht nicht um eine ausdrückliche Befürwortung von Gewalt in muslimischen Gemeinschaften, aber sehr wohl um eine unkritische Verbindung zur Gewalt und eine Militanz des Denkens und Glaubens, die nicht mehr hinterfragt wird und nicht als Widerspruch zum Islam wahrgenommen wird.   

Konkrete Beispiele können dabei helfen, zu verstehen, was mit den hier beschriebenen Phänomenen gemeint ist.

Gewalt in individuellen und gesellschaftlichen Konflikten

In unseren muslimischen Gemeinschaften hat Gewalt einen viel zu häufig akzeptierten, als gesellschaftliche Normalität hingenommenen Platz. In der Kindererziehung, im Verhältnis von Mann und Frau oder als Muster kollektiver, politischer Auseinandersetzungen. Damit soll nicht überdeckt werden, dass es diese Gewaltproblematik auch in nichtmuslimischen Gemeinschaften gibt. 

Es geht an dieser Stelle aber um die viel zu häufig geduldete „Normalität“ von Gewalt als Mittel des Miteinanders und des Gegeneinander auch im kollektiv-religiösen Kontext. Weit verbreitet ist zum Beispiel auch im Zusammenhang mit religiöser Pädagogik noch die Vorstellung von Autorität und Subordination, welche im Zweifel auch mit körperlicher Züchtigung einhergehen kann. 

Im Türkischen gibt es die Redewendung des „eti senin, kemigi benim“ – „Sein Fleisch gehört Dir, seine Knochen gehören mir“. Damit ist das Verhältnis zwischen (auch religiösem) Lehrer, Schüler und Eltern gemeint. In dieser Konstellation ist das Kind den Eltern und in deren Fortsetzung dem Lehrer geradezu körperlich – im Deutschen würden wir „mit Haut und Haaren“ sagen – ausgeliefert. Nicht selten manifestiert sich dieses sprachliche Bild von körperlicher Herrschaft über das physisch unterlegene Kind auch im konkreten Erleben von Angst und Übergrifflichkeit.  

Suchen muslimische Frauen, welche seelische oder körperliche Gewalt in der Ehe erfahren, Rat in religiösen Einrichtungen oder ganz konkret bei muslimischen Gemeinden und Verbänden, kommt es nicht selten vor, dass ihnen Geduld und stillschweigendes Ausharren in dieser Beziehung empfohlen wird. Viel zu häufig wird der Frau ein eigenes Verschulden unterstellt und ihr die Veränderung ihres eigenen Verhaltens angeraten, um den Ehemann zu besänftigen und um sein Wohlwollen zu sichern. Nicht die Gewalt des Mannes gilt als religiöse Verfehlung oder gesellschaftliches Stigma, sondern vielmehr der Status einer geschiedenen Frau. 

Gewalt muss nicht konkret körperlich ausgeübt werden, um eine gesellschaftliche Wirkung zu entfalten und um kollektiv-individuelle Verhaltenseinstellungen zu beeinflussen. Selbst subtile Formen der Unter- und Überordnung schaffen Atmosphären der Hierarchie, die Spuren hinterlassen und zu Verhaltensnormen führen können, bei denen solche Vorstellungen von Superiorität und Inferiorität prägend sind. 

So ist im religiösen Kontext der Imam vor jedem Freitagsgebet in der Rolle des Vortragenden. Seine umfangreichen Monologe sind Unterweisungen, denen die Gemeindemitglieder faktisch ausgeliefert sind. Bis die Gebetszeit erreicht ist, müssen die Gemeindemitglieder dem zuhören, was ihnen in vielfach sehr wechselnder Qualität als Frontalbeschallung zugemutet wird. Es ist nicht üblich, dass Fragen gestellt werden oder sich ein Dialog zwischen Imam und Gemeinde entwickelt. 

Dieses Muster überträgt sich in die weltlichen Veranstaltungen der muslimischen Verbände. Die Funktionäre versammeln regelmäßig Massen an Publikum, um sie einem Programm auszusetzen, bei welchem ein oder mehrere Redner unterschiedlichen Autoritätsgrades ihre Ansichten zu Gott und der Welt kundtun. Das einfache Volk hat still zuzuhören – und an der richtigen Stelle zu applaudieren. Eine darüber hinausgehende Kommunikation wird nicht erwartet und findet in der Regel auch nicht statt. So etwas wird dann häufig als „Seminar“ oder „Bildungsveranstaltung“ verstanden.

Relativierung des Lebensrechts

Hindus leben in Europa gemeinsam mit Muslimen in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Zusammenhängen. Was einem Hindu heilig ist, landet bei Muslimen nicht selten auf dem Grill oder am Dönerspieß. Gleichwohl ist es zumindest im europäischen Kontext kaum überliefert, dass Hindus wegen verletzten religiösen Gefühlen ein von Muslimen betriebenes Kebab-Restaurant überfallen oder Muslime auf offener Straße umgebracht hätten.  

Von Juden ist nicht bekannt, dass sie das jährliche christliche Osterfest als Affront des  permanenten antisemitischen Vorwurfs des Gottesmordes empfinden. Oder dass sie sich deswegen von österlichen Feierlichkeiten dazu provoziert fühlen, mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge zu rasen.  

Was ist an dem verletzten religiösen Gefühl eines Muslim also anders oder schlimmer oder unerträglicher, dass in einem derart emotional tief verwundeten Menschen die Vorstellung gedeiht, eine Mordtat sei eine angemessene Reaktion auf die erlebte Kränkung?

Natürlich gibt es im Koran die Todesstrafe. Aber nur als eine von hoheitlichen Machtinstanzen vollzogene Strafe für die Tötung eines Menschen. Und nur in jenem Fall, in welchem die Hinterbliebenen des Opfers dem Täter seine Schuld nicht vergeben. Und der Koran betont, dass Vergebung besser ist. 

Als Muslime haben wir jedoch den Grundsatz der Vergebung vollkommen verdrängt und stattdessen weitere Tatbestände erfunden, bei denen der Täter das von ihm begangene Unrecht mit dem Leben bezahlen soll. Und so willkürlich sich die Auswüchse einer solchen Rechtsauffassung entwickelt haben, so beliebig ist die Vorstellung geworden, das Leben eines anderen Menschen sei antastbar, disponibel, nicht schutzwürdiger als die eigenen Interessen oder Gefühle.

Der Weg zu einer solchen Relativierung von Leben ist gepflastert mit einer Sprache der Militanz, der gewaltsamen Wehrhaftigkeit. Aus dem türkischen Kontext ist das Gedicht über die Moscheekuppeln als Helme und Minaretten als Bajonette bekannt. 

Noch heute spricht der IGMG-Vorsitzende sinngemäß von „Wachposten“, wenn er über Moscheen und Muslime redet. 

Zur Rhetorik von Verbandsfunktionären gehört häufig die Reminiszenz an kriegerische Auseinandersetzungen der prophetischen Urgemeinde. Die Schlacht von Uhud gilt als häufig verwendete Metapher für Pflichtvergessenheit und Leichtsinn im kollektiven Handeln der Vereinsgemeinden: In dieser historischen Schlacht standen die muslimischen Kämpfer in Medina kurz vor einem Sieg über die mekkanischen Angreifer. Jedoch verließen die muslimischen Bogenschützen – getrieben von der Aussicht auf reiche Beute – eine strategisch wichtige Anhöhe und verloren damit die sicher geglaubte Oberhand über das Kriegsgeschehen und mussten sich letztlich geschlagen zurückziehen.  

Die Verbandsfunktionäre werden nicht müde, das Bild der Uhud-Bogenschützen zu beschwören, wenn sie die eigenen Reihen zu Loyalität und zur bedingungslosen Unterstützung anfeuern wollen. 

Wenn ein ehemaliges Mitglied des Ditib-Bundesvorstandes – und vermutlich bald Nachfolger des gegenwärtigen Bundesvorsitzenden auf dessen Kölner Amtsstuhl – vor dem Berg Arafat, einer Pilgerstätte in Mekka, vor hunderten junger Musliminnen und Muslimen eine Sportpalast-Rede hält und dabei die historischen prophetischen Schlachten aufzählt, den Bogen zur Dardanellen-Schlacht des Osmanischen Reiches schlägt, um dann final zu brüllen, die Muslime würden bald auch in Deutschland siegreich sein, dann muss man sich nicht wundern, wenn es in Moscheegemeinden in Deutschland nicht als militaristische Entgleisung wahrgenommen wird, dass sich Kleinkinder mit Uniform und Spielzeuggewehr unter dem Applaus ihrer begeisterten Eltern an der Inszenierung von Krieg und Tod versuchen. 

Die Glorifizierung von Krieg, Märtyrertod und gewaltsamer Eroberung zieht sich durch ein unreflektiertes, vollständig von Distanz und Empathie befreites Verständnis von Geschichte und historischen Konflikten. Die eigene Gewalt ist stets eine gerechtfertigte Reaktion auf zuvor erlebtes Unrecht oder dient – der eigenen Wahrnehmung nach – ausnahmslos dem Guten. Fremde Gewalt ist stets von Heimtücke und Verrat begleitet. 

Bis heute ist das Verständnis von Erfolg und Macht mit der Eroberung einstmals muslimisch beherrschter Gebiete oder Symbolbauten verwoben. Eine besondere Funktion erfüllt dabei die Al Aqsa Moschee in Jerusalem. Sie gilt als Sehnsuchtsobjekt muslimischer Omnipotenzvorstellungen. Gleichzeitig richtet sich ihre „Befreiung“ gegen Juden, die im Rahmen antisemitscher Stereotype als übermächtiger Feind und Ränkeschmied imaginiert werden. 

Die Rollenverteilung im Nahost-Konflikt hat dabei mittlerweile eine quasireligiöse Ersatzfunktion eingenommen: In einem zunehmend ethnisch und kulturell vielfältigen muslimischen Milieu in Deutschland (und Europa) gilt die Haltung zu diesem Konflikt als Nachweis der eigenen Frömmigkeit. Als „guter Muslim“ ist es völlig klar, wie die Antwort auf die Gretchenfrage kollektiver muslimischer Identität „Wie hältst du es mit Israel?“ lauten muss. Je deutlicher und feindseliger diese Selbstverortung zu Lasten Israels und „des Juden“ vorgenommen wird, umso einfacher ist die muslimische Wir-Konstruktion über kulturelle, sprachliche oder gar orthopraktische Unterschiede hinweg möglich.

Der Antisemitismus ist somit nur aus theologischer Perspektive unmöglich. In der muslimischen Gemeinschaftswirklichkeit gilt er als geradezu notwendig und ebnet den Weg zur Wahrnehmung und letztlich auch zur Legitimation von Gewalt als Reaktion auf erlittenes Unrecht. Er gilt als gegenwärtiger Vergewisserungsanker für historische Gewalt an Muslimen – und damit letztlich als moralische Entschuldigung eines religiösen Tabubruchs: der Tötung eines anderen Menschen.  

Verbindung zum Opferritus

Dieser Tabubruch im gesellschaftlichen Kontext findet auch eine Flankierung im religiösen Umfeld von Muslimen in Deutschland. Das jährliche Opferfest ist mittlerweile zu einer Schlachtungsfeier ausgeartet. Im Gemeindeumfeld wird das Opferfest als Pflichterfüllung und Segen angepriesen. 

Häufig wird das Bild nachgezeichnet, der Schlachtende werde dereinst auf dem Rücken seines Opfertieres ins Paradies einreiten. Die Schlachtung sei eine Investition, eine Vorleistung für das jenseitige Leben. Damit werden der ohnehin in unseren Industriegesellschaften völlig unkritisch eingeübte alltägliche Fleischkonsum und die damit verbundenen Bedingungen der Tierhaltung und Fleischproduktion nicht nur nicht vor dem Hintergrund muslimischer Halal-Vorstellungen hinterfragt, sondern geradezu mit einem jährlichen Hochfest zementiert. 

Muslimische Verbände betreiben eigene Fleischproduktions- oder Vertriebsfirmen und haben schon deswegen kein (wirtschaftliches) Interesse daran, das Verhältnis Mensch-Tier oder die Rechtfertigung der Tötung von Tieren theologisch-kritisch zu hinterfragen. 

Ob das jährliche Opferfest nicht als Ausnahmehandlung wahrgenommen werden sollte, ob es nicht zur mahnenden Erinnerung und Kanalisierung des menschlichen Gewaltpotentials dient, ob es nicht als Tabubruch der Tötung eines von Gott erschaffenen Wesens an die Anmaßung des Menschen erinnern und ihm Demut abverlangen soll? All das wird nicht thematisiert. 

Stattdessen werden weltweite Opfertierschlachtungen organisiert, für die auch Ehrenamtler aus Deutschland angeheuert werden. Sie begleiten im Namen muslimischer Organisationen kollektive Schlachtungen zum Beispiel in afrikanischen oder fernasiatischen Ländern, wobei nicht selten auch Schlachtungen in ehemaligen Krisengebieten vorgenommen werden. Der Moscheevorsitzende aus einer deutschen Gemeinde transportiert dabei nicht selten große Mengen Bargeld und kauft vor Ort Opfertiere von Viehgroßhändlern, um die Tiere schlachten zu lassen und an die ansässige, häufig Not leidende Bevölkerung zu verteilen. 

Die massenhafte Tötung von Tieren ist damit zu einem weltweiten religiösen Event geworden, für dessen Bewerbung Publikationen produziert werden, bei denen die Bildauswahl häufig den Beigeschmack des „White Savior“ trägt. Auch das sind kulturhierarchische Motive, die in den muslimischen Gemeinschaften praktisch gar nicht diskutiert werden. 

Fehlende Akzeptanz für Abweichungen von muslimischen Normen

Die Realität einer dogmatisch vielfältigen und flexiblen islamischen Glaubenslehre korrespondiert nicht mit der Enge des aktuellen gemeinschaftlichen Rahmens von Verhaltensnormen. Muslime kennen über Jahrhunderte hinweg die umfangreiche und detaillierte geistige Auseinandersetzung mit Fragen der Rechtgläubigkeit, des Geltungsrahmens von Verboten und Geboten und sind stets der Überzeugung gefolgt, dass jede abweichende Auffassung zu Fragen des Glaubens innerhalb des Islam ihren Platz hat, sofern sie nicht an den elementaren Grundsätzen der Glaubenslehre, insbesondere dem Gottesverständnis, rüttelt. 

Innerhalb dieses sehr weiten und dehnbaren Rahmens haben sich verschiedenste Rechtsschulen mit ganz unterschiedlichen Normen für ein rechtgläubiges Leben etabliert und finden innerhalb der muslimischen Lebenswirklichkeit auch ihre Anerkennung. 

Diese Flexibilität findet sich in der heutigen Wirklichkeit eines gemeinschaftlichen Lebens nur schwer wieder. Das weltliche Verhalten bietet heute viel zu häufig einen Anknüpfungspunkt dafür, ob eine Person noch als Muslim akzeptiert wird oder nicht. Selbst politische Ansichten oder Konflikte können dazu führen, dass Muslimen faktisch ein Zugangsverbot zu Moscheen erteilt wird. 

Das in die Binnensphäre hinein inkludierende Verständnis von der Möglichkeit eines sehr breiten Spektrums islamkonformer Lebensweisen wird eingeengt auf konkrete Erwartungen und Überzeugungen, die sich nicht dereinst vor dem Höchsten rechtfertigen müssen, sondern schon heute vor einer selbsternannten moralischen Instanz der Gemeinde. Wer in seiner nach außen getragenen inneren Überzeugung, seinem kritischen Blick auf Gemeindepraktiken oder wegen seiner sexuellen Identität oder auch nur seinem Anspruch, Veranstaltungen nicht nach Geschlechtern getrennt durchzuführen, als deviant auffällt, stößt auf Ablehnung bis hin zur Ausgrenzung aus muslimischen Gemeinschaften. 

Diese Selbstgewissheit von der Unantastbarkeit der eigenen Überzeugungen und Lebensweisen führt zu einer Anspruchshaltung, wonach alle anderen sich auch diesen Erwartungen und Normen unterzuordnen haben. 

Innerhalb der koranischen Überlieferung finden sich zahlreiche Schilderungen von Menschen, die der Offenbarung nicht gefolgt sind; die den Propheten (S.A.S.) zurückgewiesen, verspottet und angefeindet haben. Stets wird das Urteil über ein solches Verhalten an eine jenseitige Instanz delegiert. Nirgends findet sich eine weltliche Maßregelung gegenüber der Ablehnung oder der Belustigung auf Kosten des Propheten (S.A.S.). Ausdrücklich heißt es im Koran, der Prophet (S.A.S.) sei lediglich als Bote gesandt, nicht als Wächter oder Hüter über die Menschen. 

Die Vorstellung eines Hirten, der sanktionierend über das Verhalten seiner Schafherde wacht, ist dem Religionsverständnis des Islam fremd. Allerdings haben wir es in unserer muslimischen Gegenwart mit zahlreichen Wächtern, Hirten und Religionspolizisten zu tun, die teilweise durch willkürliche hierarchische Selbstorganisationen oder gar durch staatliche Religionsbehörden faktisch einen Klerus etabliert haben, der sich die Kompetenz einer Obhut über Muslime und der weltlichen Urteilsfindung über deren menschliches Verhalten anmaßt.

Diese Anmaßung geht so weit, dass von Nichtmuslimen erwartet wird, dass sie islamischen Werten oder Symbolen die gleiche Ehrerbietung zeigen wie Muslime selbst. Kommt es hier, wie zum Beispiel bei der Verwendung von Mohammed-Karikaturen, zu einem abweichenden Verhalten, wird dies nicht als zwar betrübliche, aber letztlich in einer auf Meinungsvielfalt basierenden Gesellschaftsordnung hinzunehmende Erscheinung bewertet. 

Natürlich wäre ein gesellschaftliches Zusammenleben, das auf größtmöglicher gegenseitiger Achtung und Wertschätzung beruht, erstrebenswert. Aber auch die Kontroverse, die Herausforderung und Konfrontation mit Gegenrede, Widerspruch und Respektlosigkeit gehört unverzichtbar zu der Dynamik einer freien Gesellschaft dazu. Wo es keine konkurrierenden Meinungen gibt, wo es keine Zumutung der Infragestellung anderer Auffassungen gibt, hat das Konzept der Meinungsfreiheit keine freiheitsfördernde Bedeutung mehr. Die Meinungsfreiheit ist aus diesem Grund geradezu konstituierend für eine freie Gesellschaft.

Gleichwohl ist auch die Meinungsfreiheit nicht schrankenlos. In einer freien, heterogenen Gesellschaft kann aber nicht das betroffene Individuum über die Grenzen der Meinungsfreiheit seines Nächsten urteilen. Dafür gibt es eine Gerichtsbarkeit, die nach rechtsstaatlichen Prinzipien darüber urteilt, was von Meinungsfreiheit gedeckt ist und was ihre Grenzen überschreitet. 

Dass im Spannungsverhältnis von aufeinanderprallenden Meinungen die gewaltsame, lebensverneinende Reaktion als legitimes oder auch nur verständliches Mittel begriffen wird, lässt keine andere Schlussfolgerung zu, als dass für den in dieser Weise gewaltbereiten Menschen sein Gegenüber nicht auf der gleichen Stufe steht. Sein Leben hat keinen höheren Wert als die eigene Meinung. 

Es soll an dieser Stelle nicht behauptet werden, dass all die oben dargelegten und beschriebenen Probleme eine ursächliche Wirkung im Sinne einer direkten Kausalität für Mord und Totschlag entfalten. Es soll nicht behauptet werden, dass in den muslimischen Gemeinschaften die gewaltsame Reaktion auf abweichendes Verhalten und abweichende Meinungen angeregt oder unmittelbar gefördert wird. Aber die Vorstellung von einem Ungleichgewicht des Wertes  menschlichen Lebens kommt nicht aus dem Nichts. Sie beginnt sich zu formen und immer konkretere, machbare Gestalt anzunehmen, wo ein Klima geduldet wird, das auf der Vorstellung von Überlegenheit beruht. 

Die Vorstellung von religiöser Überlegenheit 

Es gehört zum Wesen einer jeden Religion, dass sie exklusivistische Züge trägt. Wir halten unsere eigene Erzählung von Gott und Schöpfung nur deshalb für glaubwürdiger als die vielen anderen alternativen Erzählungen, weil wir mit ihr aufgewachsen sind. Jede Religion hält jedoch für ihre Angehörigen die Zumutung von Irrationalität bereit. Es gibt religiöse Inhalte und Erzählungen, die wir in unseren Glauben eingebunden haben, obwohl sie uns rational nicht überzeugen. 

Diese Bruchstellen sorgen im Idealfall dafür, dass der Wahrheitsanspruch der eigenen Religion stets einen Hauch des Selbstzweifels erhält. Sie bewahren uns davor, andere Glaubenserzählungen und ihre Vertreter nicht vollständig im Irrtum zu wähnen. Sie geben uns den Mut, den Absolutheitsanspruch der eigenen Religion nicht bis in die äußerste Konsequenz zu leben und andere Glaubensanhänger im gesellschaftlichen Miteinander nicht zurückzuweisen. 

Sie befähigen uns dazu, andersgläubige oder nichtgläubige Menschen mit ihren jeweiligen abweichenden Überzeugungen als ebenso gleichberechtigt und achtenswert zu empfinden. Als Muslime rücken sie uns jene Verse ins Bewusstsein, die uns zur Geduld und zur Rechtschaffenheit ermahnen, die uns in Aussicht stellen, dass wir erst im Jenseits erfahren werden, wer irrt und wer nicht. Sie fordern uns dazu heraus, den Wahrheitsanspruch unserer Glaubensüberzeugung durch gute Taten für alle unter Beweis zu stellen. 

Jemand, der Gewalt gegen Andere ausübt, will diesen mittelbaren Wahrheitsbeweis nicht antreten. Er will der Herausforderung, in einer widersprüchlichen Welt gläubig zu sein, durch die Vernichtung des Anderen ausweichen. Islam bedeutet Frieden. Und wer dem widerspricht, wird umgebracht. So kann nur jemand denken, der sein Gegenüber nicht als gleichwertig wahrnimmt. 

Ein wahrhaft gläubiger Mensch kann sich jedoch nie im Besitz einer vollständigen Wahrheit wähnen. Wer sich und andere als gleichwertige Menschen begreift, erträgt die Ungewissheit darüber, wer sich im Irrtum befindet. So jemand hält es grundsätzlich auch für möglich, dass der Andere mit seiner Meinung und seinem Glauben oder Nichtglauben einer größeren Wahrheit folgt, als man selbst. Die Wahrscheinlichkeit dafür darf man natürlich als gering erachten, weil man von der eigenen Glaubenswelten überzeug ist. Man darf sie nur nicht vollständig ausschließen. 

Die muslimischen Glaubensgemeinschaften sind jedoch, wie anhand der obigen Beispiele skizziert werden sollte, der Gefahr ausgesetzt, vollständig von der eignen Wahrhaftigkeit überzeugt zu sein. Eine solche Gewissenshaltung verliert die Demut vor dem schöpferischen Ratschluss des Höchsten. Sie setzt an die Stelle dieser Demut die eigene Gewissheit, vollkommen frei vom Irrtum zu sein. In einer solchen Glaubenswelten muss alles andere vor der eigenen Überzeugung verblassen und zurückweichen. 

Wer sich als Muslim im täglichen Gebet nur Gott hingibt und sich nur ihm geradezu körperlich beugt, darf eigentlich von keinem anderen Menschen erwarten, dass dieser sich der Glaubensüberzeugung und der Meinung eines Muslim zu beugen habe. Aber vom Gegenteil sind viele Menschen in den muslimischen Gemeinschaften überzeugt.   

Wer aber beginnt, in Kategorien von Überlegenheit, von Unter- und Überordnung zu glauben, ist anfällig dafür, andere Menschen abzuwerten. Wer einen solchen Weg einschlägt, kann irgendwann auch zu der Überzeugung gelangen, dass menschliches Leben je nach Inhalt der jeweiligen Meinung einen unterschiedlichen Wert besitzt. 

Wir müssen als Muslime deshalb aufhören, andere Lebensweisen und Glaubensauffassungen in eine Rangfolge der Glaubwürdigkeit oder Werthaltigkeit einzuordnen. Wir müssen aufhören, solche Abwertungs- und Ausgrenzungserzählungen in unseren Gemeinschaften zu dulden. Wir müssen aufhören, Rassismus, Antisemitismus und Misogynie als hinnehmbare Haltung, ja gar als kollektive Identitäten stiftende Merkmale eines „normalen“ oder „guten“ Muslims wahrzunehmen.

Ich bin selbst Muslim. Ich werfe meinen Gemeinschaften und Verbänden nicht vor, dass sie Gewalt befürworten oder gutheißen. Aber ich werfe ihnen vor, dass sie nicht kritisch hinterfragen, welchen Weg sie mit der Art und Weise ihres Glaubens, Redens und Handelns ebnen. 

Der Islam ist eine Idee davon, was Gott und was der Zweck seiner Schöpfung sein mögen. Wir Muslime entscheiden täglich darüber, wie wir diese Idee leben und damit auch darüber, ob sie uns zum Frieden oder zur Gewalt führt. Diese Entscheidung hat was mit uns Muslimen zu tun. Und solange wir nicht ändern, was in unseren Herzen und auf unseren Zungen ist, wird sich auch unser Zustand im Hier und Jetzt nicht ändern.