Die neue Türkei und die neuen Türken in Deutschland

Früher war nicht alles besser. Auch wenn man mit zunehmendem Alter dazu neigt, die Vergangenheit im nostalgischen Rückblick zu verklären und sich nur an das zu erinnern, was einem als besonders positiv im Gedächtnis geblieben ist. Im Rückblick auf meine persönliche Geschichte über und mit der Türkei sind es eine Vielzahl an Erinnerungen, über die ich gerne und ausführlich berichten würde. Gleiches gilt für die Erfahrungen innerhalb der türkeistämmigen Bevölkerung hier in Deutschland. 

Was mich aber am meisten bewegt, ist der Wandel innerhalb dieser beiden Sphären in den letzten etwa 30 Jahren.  Wer in dieser Zeit aufgewachsen ist, erinnert sich an die vielen politischen und gesellschaftlichen Versprechen einer „neuen Türkei“, einer Gesellschaft und einem Land im Aufbruch zu einer moderneren Entwicklung. 

Es ist die Zeit nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei, an die ich mich aufgrund meines Alters am intensivsten erinnere. Es war eine Zeit, in der die Türkei noch die Spuren eines Entwicklungslandes trug. Ich erinnere mich an regelmäßige Stromausfälle, an zeitlich limitierte Einspeisungen in die Frischwasserleitungen, an staatliche Monopole auf bestimmte Konsumgüter.

Ich erinnere mich daran, dass Geschenke aus Deutschland bei Verwandten und Freunden in der Türkei einen besonderen Wert hatten, weil es diese Produkte gar nicht oder nicht in vergleichbarer Qualität gab. Über die Jahre hinweg waren es zum Beispiel löslicher Kaffee, amerikanische Zigaretten oder Hautcreme in der markentypischen blauen Dose, mit denen man besondere Freude auslösen konnte. 

Die Erinnerung an eine andere Türkei 

Zum Alltag gehörten fahrende Händler, die mit Handkarren oder später auch motorisierten Pritschen ihre Waren und Dienstleistungen anboten. Sie liefen und fuhren durch die Stadtviertel und brachten Gemüse, Gasflaschen oder Obst direkt in die Wohnungen. An Händler für Altwaren konnte man direkt vor der Haustür das verkaufen, was man nicht mehr benötigte, was einem aber noch zu wertvoll erschien, als dass man es wegwerfen wollte. 

Es gab den Milchmann, der mit seinen großen Milchkannen und seinem handlichen Messkännchen die gewünschte Menge Rohmilch in die hauseigenen Milchflaschen umgoss. 

Als Kinder war es unsere Aufgabe, morgens zum Bäcker um die Ecke zu laufen und das Brot für den Tag zu kaufen. In meinem Viertel war es ein kleiner Bäckereibetrieb mit einem großen vom Ruß geschwärzten Steinofen aus dem diese typischen türkischen Weißbrotlaibe herauskamen. An den Enden spitz zulaufend und mit einer goldbraunen Kruste. Beim gleichen Bäcker konnte man im Tagesverlauf Backaufträge abgeben. Zu Hause wurden Fleisch und Gemüse roh auf großen pfannenartigen Backblechen angerichtet und beim Bäcker abgegeben. Zu einer vereinbarten Uhrzeit konnte man dann die im Steinofen gegarten Speisen abholen. 

Mein Großonkel war ein Schuhmachermeister in der Kleinstadt Manisa an der Ägäisküste der Türkei. Er hatte im alten Geschäfts- und Händlerviertel der Stadt einen kleinen Laden. Dieser bestand im Grunde aus kaum mehr als einem Arbeitstisch und einem Warenregal auf einer dreieckigen Grundfläche in einer Nische zwischen zwei großen Händlergeschäften. Außer meinem Großonkel konnten vielleicht noch zwei Personen darin sitzen. An der Wand hing sein Meisterbrief mit seinem beruflichen Beinamen „Parlak Mustafa“, der glänzende Mustafa. Er war bekannt für seine strahlend glänzenden handgefertigten Lederschuhe. Auf dem Meisterbrief stand sein Geburtsjahr noch in islamischer Zeitrechnung: 1333. 

Sein Umgang und die von ihm verwendete Sprache gegenüber seiner Kundschaft und den Nachbarn im Stadtviertel waren meine ersten Eindrücke von der vielfältigen Verwendung und den Nuancen der türkischen Sprache. Ebenso verhält es sich mit den Umgangsformen meiner Großeltern in Istanbul. In dieser Generation, die vorbildhaft für die Charakterbildung der sogenannten Gastarbeitergeneration und ihrer Nachkommen war, gab es subtile Formen der Höflichkeit und Wertschätzung. Dazu gehörte zum Beispiel, beim Einkaufen teure Lebensmittel separat in Zeitungspapier einwickeln zu lassen. Denn Armut war allgegenwärtig und diese Geste der Zurückhaltung sollte als Rücksicht auf jene in der Nachbarschaft verstanden werden, die sich nicht jede Woche Fleisch oder teure Wurstwaren leisten konnten. 

Wenn wir im Sommer in Istanbul am Strand lagen – ja damals gab es in den äußeren Stadtvierteln wie Kartal oder Pendik noch öffentliche Sandstrände in Istanbul – konnten wir in einiger Entfernung den Balkon der Wohnung unserer Großeltern sehen. Es war üblich, dass sie ein ganz bestimmtes buntes Handtuch auf die Wäscheleinen am Balkon legten, wenn es Besuch gab, der von weit her oder unter großen Mühen gekommen war, um uns Gäste aus Deutschland zu sehen. Für uns war es das Signal, die Sachen zu packen und zurück in die Wohnung zu laufen – und uns darüber zu freuen, welch glücklicher Zufall es doch war, dass wir rechtzeitig genug vom Strand hatten, um den freundlichen Besuch noch anzutreffen. 

Als Kinder tobten wir den ganzen Tag mit den Kindern in der Nachbarschaft. Und wenn Spiel und Hitze uns genug zugesetzt hatten, liefen wir unter den Balkon unserer Großeltern im vierten Stock, von wo uns unser Großvater kleine Geldscheine mit einer Wäscheklammer zusammengehalten herunter warf. Seine großzügige Geste war immer von seiner Ermahnung begleitet, von dem, was wir uns kaufen, auch an unsere Spielkameraden abzugeben. Wenn wir uns eine Tüte mit Süßigkeiten kauften, musste der Inhalt zuerst den anderen angeboten werden, bevor man selbst einen Bissen nahm. Kauften wir uns etwas zu trinken, gehört es zum anständigen Verhalten, auch seinen Freunde zu fragen, ob sie eine Flasche Limonade möchten. Zu diesen Höflichkeitsritualen gehörte es, in dem richtigen Maß zu insistieren. Und als befragter Freund gehörte es sich, das Angebot auszuschlagen, wenn zu viele Kameraden beisammen waren – um den spendablen Freund nicht in Verlegenheit zu bringen, falls ihm nicht genug Taschengeld zur Verfügung stand. 

Der Verlust der Feinheit

Es waren solche Gesten der Rücksichtnahme und Feinheit im Benehmen, die ich mit der Türkei und „Türkisch-Sein“ verband. Trotz wirtschaftlicher Not oder technologischer Rückständigkeit war das Verhalten der Menschen größtenteils von dieser von Empathie und Einfühlsamkeit geformten Feinheit, von einer angewandten, praktischen Ästhetik geprägt.

Davon ist in den letzten etwa zwanzig Jahren nahezu nichts mehr übrig geblieben. Das Land und die Bevölkerung hat die wirtschaftliche Rückständigkeit überwunden. Es gibt nichts in Europa, was man in der Türkei nicht kaufen könnte. Vielfach sind Produkte zu erwerben, die den Weg auf den deutschen Markt noch nicht gefunden haben. 

Aber das Verhalten der Menschen hat sich verändert. Ausgerechnet unter einem politischen und gesellschaftlichen Einfluss, der sich eine besondere religiöse Prägung und Spiritualität zuspricht, und von dem Vorhaben beseelt war, die türkische Seele von den Übeln des Weltlichen zu befreien und wieder islamisch zu restaurieren, ist es zu einer ungeahnten Verrohung der Umgangsformen gekommen. Die türkische Gesellschaft hat sich in einen Zustand gewandelt, der das Mittelmaß verehrt, das Gewöhnliche und Banale als Maßstab begreift, jeden Anspruch auf Vervollkommnung als überheblichen Elitarismus diffamiert. 

Es gibt keinerlei übergeordnete Tugenden mehr, die Allgemeingültigkeit beanspruchen könnten. Die Vetternwirtschaft und die Korruption haben ein Ausmaß erreicht, das den ehemaligen Ministerpräsidenten Turgut Özal wie einen braven Schuljungen erscheinen läßt. Özal, der die zweite Hälfte der 1980er Jahre geprägt hat, wurde von Journalisten darauf angesprochen, wie Beamte bei den niedrigen und durch Inflation entwerteten Besoldungen noch überleben sollen. Er antwortete mit den berühmt gewordenen Worten, seine Beamten wüssten schon, was zu tun sei. Vor ihm hatte noch kein hoher Staatsdiener öffentlich angedeutet, dass Bestechung und Vorteilsannahme zum Grundwesen der türkischen Staatsverwaltung gehören. 

Mittlerweile ist jede Verfehlung, ja sogar jede Straftat nur eine lässliche Petitesse – wenn sie nur von den „eigenen Leuten“ begangen wird. Als öffentlich wurde, dass das Staatsoberhaupt Erdogan mutmaßlich mit seinem Sohn darüber sinniert, wie und wo die Millionen an Bargeldbeträgen aus den Privathäusern in sichere Verstecke verteilt werden können, wurde zunächst die Authentizität der Aufnahmen in Zweifel gezogen. Letztlich hat man sich in der Breite der Gesellschaft darauf verständigt, dass jede politische Epoche ihre Staatsdiebe hatte – und dass dieser wenigstens im Gegenzug für etwas Wohlstand gesorgt habe, von dem alle ein wenig profitieren. 

Diese kontinuierliche Erosion von Anstand und dem Abhandenkommen des Gefühls für ein aufrichtiges Verhalten hat jede Sphäre, jede Ebene der türkischen Gesellschaft vergiftet. 

Jedes Anzeichen von Mitgefühl, Differenzierung, Hinterfragen oder Kritik werden mindestens als Schwäche, in der Regel als Ausdruck von Feindseligkeit und Niedertracht verachtet. Es gilt in allen Lebensbereichen sein Gegenüber anzugreifen, zu demütigen, zu bekämpfen, niederzuringen und zu vernichten. 

Die türkische Gesellschaft kennt nach dem Vorbild seiner zwei Jahrzehnte lang beobachteten Herrscher und ihrer Praktiken keinen Widerstreit divergierender Interessen, keine Diskrepanzen, keine Meinungsverschiedenheiten mehr, die zum Ausgleich gebracht werden müssen. Sie kennt keine Gegner mehr, nur noch Feinde. Und diese gilt es, zu bekämpfen und zu besiegen. Kompromisse sind keine Optionen. Es gilt die totale Niederlage oder die totale Unterwerfung des Feindes.    

Sachlichkeit wird als Schwäche ausgelegt. Das argumentum ad hominem ist die einzige noch praktizierte Methode.

Erosion von Anstand und Glaubwürdigkeit 

Davon leben in Deutschland zahlreiche Akteure, die sich in den sozialen Medien als wutschäumende Apologeten dieser ethischen und sprachlichen Verrohung zeigen. Stolz, Ehre, Vaterland, Patriotismus, etc. sind ihr Vokabular. Verachtung und das Verächtlichmachen ihre Strategie, die Teilhabe an materiellen oder immateriellen Herrschaftsressourcen ihre Belohnung. 

Diese Phänomene strahlen bis in die muslimischen Organisationsstrukturen hinein. Nirgends habe ich so schlechte zwischenmenschliche Kontakte erlebt, nirgends fühlte ich mich als Muslim fremder, als in den Vereinsräumen dieser Verbände. Nirgends, konnte ich bislang beobachten, hat das Verhältnis zur Wahrheit und die Wahrhaftigkeit des Handelns und Sprechens einen geringeren Stellenwert als innerhalb dieser Organisationen. 

Glaubwürdigkeit ist die härteste Währung einer religiösen Einrichtung. Der Glaube ist das, was die Muslime aus ihm machen. Was von dem, was die muslimischen Organisationen heute sagen, ist überhaupt glaubwürdig? Wo stehen die islamischen Grundsätze heute noch in Übereinstimmung mit dem, was die muslimischen Organisationen tatsächlich praktizieren? 

Wären unsere muslimischen Organisationen in Deutschland Gebrauchtwagenhändler, niemand würde ihnen ein Auto abkaufen. Weil niemand ihnen glauben würde, was sie über das Fahrzeug zu sagen haben.

Die jüngsten Ereignisse um ATIB, ZMD, IGMG und DITIB machen deutlich, dass diese Strukturen von dem identischen Zerfallsprozess betroffen sind, wie die Türkei selbst. Während sie hier täglich die Anfeindung beklagen, die sie aus der Mitte unserer deutschen Gesellschaft erfahren, freuen sie sich gleichzeitig über die bevorstehende Inszenierung einer Eroberungsdramaturgie bei der ihr Idol am liebsten auf einem Schimmel in eine ehemalige Kirche einreiten würde, um sie für sich, seine Dominanz und seinen Überwältigungswillen zu reklamieren. 

Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Man kann nicht gleichzeitig Religionsgemeinschaft mit Wahrheitsanspruch für das hiesige Zusammenleben sein und gleichzeitig die letzte Bastion, die letzte Fluchtburg für Muslime in der Fremde. 

Man kann nicht Demokrat sein und sich für antidemokratische Propaganda begeistern. Man kann nicht auf einen deutschen Islam schimpfen und sich dann plötzlich zum deutschen Muslim erklären, weil einem kritische Nachfragen zu eben diesen Widersprüchen missfallen. 

Wer in seiner einen Lebenswirklichkeit seinem Publikum den kosmopolitisch geprägten, weltbürgerlichen Aufsteiger darbietet und gleichzeitig einem anderen Publikum versichert, türkische Muslime seien türkische Muslime seien türkische Muslime, muss zumindest erklären können, was dieses ganz besondere, exklusivistische Türkisch-Sein für eine Bedeutung, für eine Relevanz, für einen Nutzen für unser Zusammenleben in Deutschland mit sich bringt. Momentan ist da nicht viel, wenn man sich als ethisch aufrichtigen Menschen versteht. Der Sandstrand ist schon lange zur Uferschnellstraße zubetoniert worden.