Eigentore und Brötchenschlangen

Was sind wir doch für eine überreizte Gesellschaft geworden. Jedes Ereignis, jeder öffentlich ausgesprochene Satz, jedes Bild löst mittlerweile Eruptionen der Empörung aus, führt zur sofortigen Gegenrede, die dann ebenso plakativ und grobschlächtig auf die empfunden oder tatsächlich plakative und grobschlächtige Provokation eindrischt. Wir nehmen uns weder Zeit, den Gegenstand unserer Empörung näher zu betrachten, noch unternehmen wir den Versuch, ihn auf seine Bedeutungs- und Wirkungsebenen hin zu durchleuchten. Damit bleiben wir sprunghaft, reagieren auf öffentliche Diskurse nur noch reflexartig, statt uns um Differenzierung und kritische Analyse zu bemühen.

Versuchen wir das Gegenteil. Versuchen wir, einen differenzierten Blick auf die Ereignisse der letzten Tage zu werfen:

Mesut Özil und Ilkay Gündoğan haben sich mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdoğan fotografieren lassen. Es sind keine Bilder, die spontan auf Bitten eines prominenten Fußballfans mit seinen sportlichen Idolen zustande gekommen sind. Es sind choreografierte Aufnahmen. Mit Trikotübergabe und im Fall Gündoğan auch mit persönlicher Widmung neben dem Autogramm des Sportlers. Es ist auch Gündoğan, der das Zusammentreffen und die Bilder im Nachgang kommentiert.

Es handele sich um eine Geste der Höflichkeit. Höflichkeit ist das eine, Anstand und Gewissen sind das andere. Nun wissen wir nicht, ob den beiden Fußballern die Ereignisse in der Türkei und die Entwicklung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse unter Erdoğan bekannt sind. Tausende Menschen haben ihre wirtschaftliche Existenz oder ihre Freiheit verloren, weil sie zur falschen Zeit die falsche Seite unterstützt oder auch nur die falsche Meinung vertreten haben. Als die türkische Regierung es zuließ und förderte, dass die Gülen-Bewegung den türkischen Justizapparat unterwanderte und durch unzählige fingierte Beweise Menschen hinter Gitter brachte oder durch ehrenrührige Anklagen in den Suizid trieb, da war es Erdoğan persönlich, der darin kein Problem sah und diese Vorgänge mit den Worten beschrieb, die Türkei würde „ihre Därme reinigen“. Die Entfernung und bürgerliche Vernichtung unliebsamer politischer Gegner oder auch einfacher Kritiker mit der Metapher der Säuberung zu beschreiben, ist bis heute ein beliebtes Stilmittel der türkischen Politik.

Als die ehemaligen politischen Partner sich dann über die Aufteilung von Macht und Geld zerstritten und zu unerbittlichen Gegnern wurden, versuchten sie sich gegenseitig aus dem Weg zu räumen. Die Komplizen bei der Abschaffung des Rechtsstaates in der Türkei wurden über Nacht zu Verfolgten eben jenes Justizapparates, deren Korrumpierung sie selbst betrieben hatten. Auf Verdacht hin oder als Folge von Diffamierungen und Denunziationen sind unzählige Menschen auch heute noch in Haft. Allein der Fall Deniz Yücel dokumentiert eindrücklich, wie unter Erdogan heute jeder ohne förmliche Anklage für ein Jahr hinter Gittern verschwinden kann und dann ebenso willkürlich wieder in die Freiheit entlassen wird. Der Papierkram zur Aufrechterhaltung der Illusion von förmlich korrekten Verfahren wird dann irgendwann nachgeschoben.

Dummheit als Entschuldigung

All das mag beiden Fußballern nicht bekannt gewesen sein. Auch ehemalige gestandene Nationalspieler sind ja dafür bekannt, dass sie nach einer Niederlage den Sand nicht in den Kopf stecken wollten oder bei Transfergerüchten bestätigen, dass es ihnen egal ist, ob sie zukünftig in Mailand oder Madrid spielen – Hauptsache Italien. Also können politische Kurzsichtigkeit oder auch einfach nur Dummheit durchaus eine Erklärung sein. Wichtig ist bei all dem festzuhalten, dass es sich dann eben um deutsche Dummköpfe handelt. Die deutsche Staatsbürgerschaft ist ja kein Status, den man verliert, nur weil man sich dumm verhält. Würden wir allen Deutschen, die sich dumm verhalten, ihre Staatsbürgerschaft aberkennen und sie sonst wohin abschieben, würde die Fieberphantasie der AfD von der Entvolkung Deutschlands tatsächlich Realität.

Es geht auch nicht darum, wer „mein Staatspräsident“ ist. Wer den Fall über die Selbstwahrnehmung der Betroffenen zu diskutieren versucht, hat nicht begriffen, dass es Menschen in unserem Land gibt, die eben mehr als nur eine Heimat haben. Sie spielen in der deutschen Nationalmannschaft, drücken aber ebenso der türkischen Mannschaft die Daumen. Sie haben emotionale Bindungen zu diesem Land, ebenso wie sie unlösliche Bindungen zur Türkei haben. Das ist kein Problem, das ist keine Störung. Das sind die Normalität und der Reichtum einer migrantischen Biographie.

Es kann auch sein, dass beide Fußballer in voller Kenntnis der politischen Zustände in der Türkei Erdoğan gut finden und sich freuen, mit ihm zu posieren und ihm ihre Trikots zu überreichen. Das ist kein Randphänomen. Etwa die Hälfte der Menschen in der Türkei und der türkeistämmigen Menschen in Deutschland fühlen ähnlich. Die Türkei ist in dieser Frage ein tief gespaltenes Land. Und Erdoğans Politik setzt ganz bewusst auf diese Spaltung. Er verbindet seinen persönlichen Erfolg und seine politische Machtstellung mit dem Wohl und der Zukunft der Türkei. Wer ihn unterstützt, unterstützt eine starke Türkei. Wer gegen ihn ist, übt Verrat an der Zukunft der Türkei.

Spaltung hat keine Nationalität

Wer dieses Denken hier in Deutschland übernimmt, stellt sich nicht bewusst gegen die deutsche Gesellschaft. Er hat vor lauter Angst, nationale Identität, religiöse Prägung und kulturelle Traditionen zu verlieren, sich damit abgefunden, Anstand und Gewissen preiszugeben und folgt politischen Führern, die ihm das Wiedererstarken einstiger historischer Größe und Macht versprechen und die Höherwertigkeit der eigenen Identität predigen. Das ist aktuell auch ein sehr deutsches Problem.

Wenn also in den Posen der beiden Fußballer ein Versagen abgebildet ist, dann ist es nicht das Versagen der Integration. Es ist das Versagen unserer deutschen Politik bei der Vermittlung von Demokratie und des Verständnisses von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Und dieses Versagen wird nicht erst dann sichtbar, wenn deutsche Nationalspieler mit türkischen Eltern und Oberlippenbart darüber stolpern.

Wir müssen es auch dort erkennen, wo Spitzenpolitiker mit ihren Äußerungen dieses kollektive politische und gesellschaftliche Versagen verkörpern.

Ich habe die nur scheinbar liberale Islamkritik – in der Form, wie sie seit Jahren betrieben wird – nicht bloß aus der Sicht des betroffenen Muslims infrage gestellt. Ich habe sie gerade als Jurist und aus der Sensibilität gegenüber unserer Rechts- und Verfassungsordnung deutlich kritisiert, ja auch scharf angegriffen. Denn sie hat über Jahre hinweg die Ungleichwertigkeit religiöser Gruppen propagiert und damit auch die Ungleichwertigkeit von Rechtssubjekten als scheinbar legitime Meinung in den öffentlichen Diskurs transportiert. Die Forderung nach Sondergesetzen für Bürger einer besonderen Glaubensrichtung ist auch als Folge dieser Debatte bereits Realität in unserem Land, auch wenn sie sich lange in komplizierten Formulierungen der Landesschulgesetze versteckt hat oder wie aktuell in Berlin auch ganz offen und selbstbewusst in der Verteidigung eines verfassungswidrigen, weil diskriminierenden Neutralitätsgesetzes zu Tage tritt.

Rhetorische Spiegelbilder der Erdoğan-Fotos

Diese Debatte ist durch die ständige Wiederholung und Verschärfung ihrer Ungleichwertigkeitserzählung zu einer faktischen gesellschaftlichen Ungleichbehandlung von Muslimen und gerade von Musliminnen, die wegen ihres Kopftuchs als durch den Diskurs stigmatisierte Gruppe sichtbar werden, geronnen. Als Sarrazin noch davon sprach, dass Migranten nichts zu unserem gesellschaftlichen Wohlstand beitragen, außer Gemüseläden zu betreiben und „Kopftuchmädchen“ zu produzieren, haben wir das noch mit dem leichten Schauder des Verbotenen beklatscht. Als vermeintliche Tatsache, die man endlich auch so mal öffentlich aussprechen dürfen muss.

Heute blickt uns dieses Gedankengut nicht mehr vom fernen braunen Rand der Gesellschaft an. Es ist eingedrungen in unsere Mitte. Und das nicht schleichend und verstohlen. Sondern polternd, wütend und unübersehbar. Es macht keine Bilder mit Trikotübergaben. Aber es redet im Bundestag und spricht von Kopftuchfrauen und sonstigen Taugenichtsen, die unseren Wohlstand gewiss nicht steigern werden. Es setzt Frauen, die Kopftuch tragen, mit „Messermännern“ gleich. Es kriminalisiert Menschen allein wegen ihres sichtbar gewordenen Glaubens. Es spaltet unsere Gesellschaft in legitime Staatsbürger und Verräter am Wohl(stand) unseres Volkes.

Solche Reden sind das rhetorische Spiegelbild der Erdoğan-Fotos. An solche Reden haben wir uns aber gewöhnt. Sie erhalten 13 % Applaus im Bundestag und wahrscheinlich noch mehr an den Stammtischen und in den Wohnzimmern unseres Landes.

Solche Reden sind natürlich dumm. Nicht nur, weil sie unanständig und gewissenlos sind, sondern auch weil sie nicht wahr sind. Kopftuch tragende Frauen kämpfen darum, ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft zu finden. Sie müssen sich von Instanz zu Instanz durchklagen, um der Gesellschaft deutlich zu machen, dass sie gleichberechtigt an den Möglichkeiten dieser Gesellschaft teilhaben dürfen, auch wenn sie einen anderen Glauben haben als die Parlamentarier, die diskriminierende Verbotsgesetze erlassen. Und selbst dann ist der tägliche Kampf um Normalität in einem Land, in dem man sich im öffentlichen Diskurs nahezu stündlich auf die Aufklärung beruft, noch längst nicht ausgefochten. Ich kenne Kopftuch tragende Ärztinnen, die zur Visite nur mit OP-Haube ans Krankenbett treten, weil sie nur dann von Patienten mit Respekt und Achtung vor ihrer beruflichen Kompetenz behandelt werden.

Das Unbehagen in der Bäckerei

Wir führen heute ernsthaft Reden, in denen es darum geht, dass sich Menschen in der Schlange beim Bäcker unwohl fühlen, wenn ein Mensch mit dunklerer Hautfarbe vor ihnen steht. Ein liberaler Politiker spielt mit Ressentiments, in denen dunklere Hautfarben, ein bestimmtes Aussehen als Indizien für fehlende Rechtstreue und die Eigenschaft „nichtdeutsch“ dienen. Auch das ist die rhetorische Kriminalisierung und Ausbürgerung all jener, die nicht einem stereotypischen „blonden und weißen“ deutschen Selbstbild entsprechen. In diesem Selbstbild ist kein Platz für Veränderung. Selbst in der zehnten Generation bleibt der dunkle Brötchenkäufer ein Ausländer, der allenfalls einen rechtmäßigen Aufenthaltsstatus haben kann, aber nie zum rechtstreuen Deutschen wird.

Erst kürzlich schrieb mein Freund Eren Güvercin im Feuilleton des Deutschlandfunk Kultur über Ramadan „als alten deutschen Brauch“ – natürlich eine bewusst überspitzte Formulierung. Die Reaktionen darauf waren vorhersehbar und sind exemplarisch. Die große Entrüstung über diese Formulierung kommt von jenen, für die Muslime mit ihren Bräuchen nie wirklich „Deutsche“ sein oder werden können. Sie waren es in der Vergangenheit nicht und sie sollen es auch in der Zukunft nicht sein können.

Der Ramadan ist heute (auch) ein deutscher Brauch – weil er von vielen deutschen Muslimen gelebt wird. Er wird in den nächsten Generationen ein alter deutscher Brauch sein. Aber es gibt Menschen unter uns, die stellen sich zwar nicht mit Erdoğan zum Trikotfoto auf und empfinden solche Posen als Widerspruch zu „unseren Werten“, dennoch spalten sie unsere Gesellschaft auf ihre Weise. Sie demonstrieren, dass für sie der Islam niemals zur Normalität in Deutschland werden darf. Entsprechend darf die Existenz, die Teilhabe, das Alltagsleben von Muslimen nie zu einem Brauch in Deutschland werden, dürfen Menschen, die anders glauben als wir das gut finden, niemals „Deutsche“ sein oder werden. Sollen das „unsere Werte“ sein?

Mit den Bäckerei-Anekdoten Christian Lindners und den Äußerungen Alexander Dobrindts, wonach das Beschreiten des Rechtsweges durch Ausländer einer Untergrabung unseres Rechtsstaates gleichkomme, haben wir die nächste Eskalationsstufe des öffentlichen Diskurses erreicht. In diesen Äußerungen schwingen die Gleichsetzung von „deutsch“ gleich „rechtstreu“ (und stillschweigend natürlich das Gegenteil) und der Vorbehalt des „deutschen Rechtswegs“ nur für „Deutsche“ mit.

Diese populistischen Vorstöße verschieben erneut die Grenzen des Sagbaren. Damit verändern sie unser Denken und unseren Blick auf Vielfalt in unserer Gesellschaft. Sie wird nicht mehr als Normalität beschrieben, sondern als Bedrohung. Als weiteres Szenario von Ungleichwertigkeit, in dem es sich zu behaupten gilt. In dem die Privilegien einer Mehrheit notfalls mit Sondergesetzen durchgesetzt werden, in der die Inanspruchnahme von Rechtsmitteln nur einer Elite vorbehalten bleibt und bei allen anderen als Beweis von Schädigungsabsicht und Verrat am Staat gilt. Das ist das Bild einer gespaltenen Gesellschaft in der noch vor jedem Heimatkurs ein Unterricht in Demokratiebildung auf dem Stundenplan stehen müsste. Ein Bild, über das wir stolpern müssen, auch wenn Erdoğan darauf nicht zu sehen ist.