Hass, Heimat, Hoffnung

Unter dem Eindruck aktueller deutscher, türkischer, deutsch-türkischer, türkisch-deutscher Debatten ein Auszug aus: Max Frisch, Tagebücher 1966–71, Frankfurt a.M.

 

„1. Frage: Wenn Sie sich in der Fremde aufhalten und Landsleute treffen: Befällt Sie dann Heimweh oder dann gerade nicht?

 

2. Frage: Hat Heimat für Sie eine Flagge?

 

3. Frage: Worauf könnten Sie eher verzichten:

a. auf Heimat

b. auf Vaterland

c. auf die Fremde

 

4. Frage: Was bezeichnen Sie als Heimat?

a. ein Dorf

b. eine Stadt oder ein Quartier darin

c. einen Sprachraum

d. einen Erdteil

e. eine Wohnung

 

5. Frage: Gesetzt den Fall, Sie wären in der Heimat verhasst: Könnten Sie deswegen bestreiten, dass es Ihre Heimat ist?

 

6. Frage: Was lieben Sie an Ihrer Heimat besonders?

a. die Landschaft

b. dass Ihnen die Leute ähnlich sind in ihren Gewohnheiten, d.h. dass Sie sich den Leuten angepasst haben und daher auf Einverständnis rechnen können?

c. das Brauchtum

d. dass Sie dort ohne Fremdsprache auskommen

e. Erinnerungen an die Kindheit

 

7. Frage: Haben Sie schon Auswanderung erwogen?

 

8. Frage: Welche Speisen essen Sie aus Heimweh (z.B. die deutschen Urlauber auf den Kanarischen Inseln lassen sich täglich das Sauerkraut mit dem Flugzeug nachschicken) und fühlen Sie sich dadurch in der Welt geborgener?

 

9. Frage: Gesetzt den Fall, Heimat kennzeichnet sich für Sie durch waldiges Gebirge mit Wasserfällen: Rührt es Sie, wenn Sie in einem andern Erdteil dieselbe Art von waldigem Gebirge mit Wasserfällen treffen, oder enttäuscht es Sie?

 

10. Frage: Warum gibt es keine heimatlose Rechte?

 

11. Frage: Wenn Sie die Zollgrenze überschreiten und sich wieder in der Heimat wissen: Kommt es vor, dass Sie sich einsamer fühlen gerade in diesem Augenblick, in dem das Heimweh sich verflüchtigt, oder bestärkt Sie beispielsweise der Anblick von vertrauten Uniformen (Eisenbahner, Polizei, Militär etc.) im Gefühl, eine Heimat zu haben?

 

12. Frage: Wie viel Heimat brauchen Sie?

 

13. Frage: Wenn Sie als Mann und Frau zusammenleben, ohne die gleiche Heimat zu haben: Fühlen Sie sich von der Heimat des andern ausgeschlossen oder befreien Sie einander davon?

 

14. Frage: Insofern Heimat der landschaftliche und gesellschaftliche Bezirk ist, wo Sie geboren und

aufgewachsen sind, ist Heimat unvertauschbar: Sind Sie dafür dankbar?

 

15. Frage: Wem?

 

16. Frage: Gibt es Landstriche, Städte, Bräuche usw., die Sie auf den heimlichen Gedanken bringen, Sie hätten sich für eine andere Heimat besser geeignet?

 

17. Frage: Was macht Sie heimatlos?

a. Arbeitslosigkeit

b. Vertreibung aus politischen Gründen

c. Karriere in der Fremde

d. dass Sie in zunehmendem Grad anders denken als die Menschen, die

den gleichen Bezirk als Heimat bezeichnen wie Sie und ihn beherrschen

e. ein Fahneneid, der missbraucht wird

 

18. Frage: Haben Sie eine zweite Heimat…?

 

19. Frage: …und wenn ja: Können Sie sich eine dritte und vierte Heimat vorstellen oder bleibt es dann bei der ersten?

 

20. Frage: Kann Ideologie zu einer Heimat werden?

 

21. Frage: …Gibt es Orte, wo Sie das Entsetzen packt bei der Vorstellung, dass es für Sie die Heimat wäre, z.B. Harlem, und beschäftigt es Sie, was das bedeuten würde, oder danken Sie dann Gott?

 

22. Frage: Empfinden Sie die Erde überhaupt als heimatlich?

 

23. Frage: Auch Soldaten auf fremdem Territorium fallen bekanntlich für die Heimat: Wer bestimmt, was Sie der Heimat schulden?

 

24. Frage: Können Sie sich überhaupt ohne Heimat denken?

 

25. Frage: Woraus schließen Sie, dass Tiere wie Gazellen, Nilpferde, Bären, Pinguine, Tiger, Schimpansen usw., die hinter Gittern oder in Gehegen aufwachsen, den Zoo nicht als Heimat empfinden?“

 

… und ergänzend:

 

„Hassen Sie leichter ein Kollektiv oder eine bestimmte Person und hassen Sie lieber allein oder in einem Kollektiv?

 

Kann Hass eine Hoffnung erzeugen?“