Heimaten

„Nun haben wir auf [vielen] Seiten Nein gesagt, Nein aus Mitleid und Nein aus Liebe, Nein aus Haß und Nein aus Leidenschaft – und nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja –: zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland.

Dem Land, in dem wir geboren sind und dessen Sprache wir sprechen.

Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben. Warum grade sie – warum nicht eins von den andern Ländern –? Es gibt so schöne.

Ja, aber unser Herz spricht dort nicht. Und wenn es spricht, dann in einer andern Sprache – wir sagen «Sie» zum Boden; wir bewundern ihn, wir schätzen ihn – aber es ist nicht das.

Es besteht kein Grund, vor jedem Fleck Deutschlands in die Knie zu sinken und zu lügen: wie schön! Aber es ist da etwas allen Gegenden Gemeinsames – und für jeden von uns ist es anders. Dem einen geht das Herz auf in den Bergen, wo Feld und Wiese in die kleinen Straßen sehen, am Rand der Gebirgsseen, wo es nach Wasser und Holz und Felsen riecht, und wo man einsam sein kann; wenn da einer seine Heimat hat, dann hört er dort ihr Herz klopfen. Das ist in schlechten Büchern, in noch dümmeren Versen und in Filmen schon so verfälscht, daß man sich beinahe schämt, zu sagen: man liebe seine Heimat. Wer aber weiß, was die Musik der Berge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Landschaft spürt … nein, wer gar nichts andres spürt, als daß er zu Hause ist; daß das da sein Land ist, sein Berg, sein See, auch wenn er nicht einen Fuß des Bodens besitzt … es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik, und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land. Wir lieben es, weil die Luft so durch die Gassen fließt und nicht anders, der uns gewohnten Lichtwirkung wegen – aus tausend Gründen, die man nicht aufzählen kann, die uns nicht einmal bewußt sind und die doch tief im Blut sitzen.

Wir lieben es, trotz der schrecklichen Fehler in der verlogenen und anachronistischen Architektur, um die man einen weiten Bogen schlagen muß; wir versuchen, an solchen Monstrositäten vorbeizusehen; wir lieben das Land, obgleich in den Wäldern und auf den öffentlichen Plätzen manch Konditortortenbild eines Ferschten dräut – laß ihn dräuen, denken wir und wandern fort über die Wege der Heide, die schön ist, trotz alledem.

Manchmal ist diese Schönheit aristokratisch und nicht minder deutsch; ich vergesse nicht, daß um so ein Schloß hundert Bauern im Notstand gelebt haben, damit dieses hier gebaut werden konnte – aber es ist dennoch, dennoch schön. Dies soll hier kein Album werden, das man auf den Geburtstagstisch legt; es gibt so viele. Auch sind sie stets unvollständig – es gibt immer noch einen Fleck Deutschland, immer noch eine Ecke, noch eine Landschaft, die der Fotograf nicht mitgenommen hat … außerdem hat jeder sein Privat-Deutschland. Meines liegt im Norden. Es fängt in Mitteldeutschland an, wo die Luft so klar über den Dächern steht, und je weiter nordwärts man kommt, desto lauter schlägt das Herz, bis man die See wittert. Die See – Wie schon Kilometer vorher jeder Pfahl, jedes Strohdach plötzlich eine tiefere Bedeutung haben … wir stehen nur hier, sagen sie, weil gleich hinter uns das Meer liegt – für das Meer sind wir da. Windumweht steht der Busch, feiner Sand knirscht dir zwischen den Zähnen …

Die See. Unvergeßlich die Kindheitseindrücke; unverwischbar jede Stunde, die du dort verbracht hast – und jedes Jahr wieder die Freude und das «Guten Tag!» und wenn das Mittelländische Meer noch so blau ist … die deutsche See. Und der Buchenwald; und das Moos, auf dem es sich weich geht, daß der Schritt nicht zu hören ist; und der kleine Weiher, mitten im Wald, auf dem die Mücken tanzen – man kann die Bäume anfassen, und wenn der Wind in ihnen saust, verstehen wir seine Sprache. Aus Scherz hat dieses Buch den Titel «Deutschland, Deutschland über alles» bekommen, jenen törichten Vers eines großmäuligen Gedichts. Nein, Deutschland steht nicht über allem und ist nicht über allem – niemals. Aber mit allen soll es sein, unser Land. Und hier stehe das Bekenntnis, in das dieses Buch münden soll:

Ja, wir lieben dieses Land.

Und nun will ich euch mal etwas sagen:

Es ist ja nicht wahr, daß jene, die sich «national» nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da.

Sie reißen den Mund auf und rufen: «Im Namen Deutschlands …!» Sie rufen: «Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.» Es ist nicht wahr.

Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen – wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand – nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist. Unser ist es.

Und so widerwärtig mir jene sind, die – umgekehrte Nationalisten – nun überhaupt nichts mehr Gutes an diesem Lande lassen, kein gutes Haar, keinen Wald, keinen Himmel, keine Welle – so scharf verwahren wir uns dagegen, nun etwa ins Vaterländische umzufallen. Wir pfeifen auf die Fahnen – aber wir lieben dieses Land.

Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln – mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel – mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land. Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen – weil wir es lieben. Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns […]; man hat uns mitzudenken, wenn «Deutschland» gedacht wird … wie einfach, so zu tun, als bestehe Deutschland nur aus den nationalen Verbänden.

Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir.

Und in allen Gegensätzen steht – unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat.“*

 

Ich bin in Lübeck geboren und aufgewachsen. An der Ostsee. Vielleicht berührt mich dieser Text Kurt Tucholskys deshalb auf eine ganz besondere Weise. Ich habe noch keinen Text gefunden, der besser und aktueller beschreibt, warum und wie ich mich – als Mensch, türkischer Herkunft und islamischen Glaubens – auch deutsch fühle. Und er lässt vielleicht all jene, auch die, „auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist“ ansatzweise erahnen, welch immensen Reichtum ich mein Eigen nenne, mich mit all diesen Empfindungen, all diesen Gedanken und all diesen auf unterschiedliche Art und Weise angeschlagenen Saiten meines Inneren nicht nur mit einem, sondern mit zwei Ländern verbunden zu fühlen.

Es ist auch die Türkei, zu der ich nicht „Sie“ sagen kann. Wo mein Herz auch spricht. Und zwar nicht einfach in einer anderen Sprache, sondern in der meiner Mutter. Auch dort höre ich ein heimatliches Herz klopfen. Aus tausend Gründen liebe ich diese türkische Heimat. Mit einem Gefühl, jenseits aller Politik.

Es sind Erinnerungen und Erlebnisse, die sich über die Jahre zu einem Teil meiner Persönlichkeit verfestigt haben. Personen, Stimmen, Lieder, Gerüche, Klänge, Eindrücke, die ganz fest mit dem Herzen und den Gedanken verwoben sind. Meine Großmutter beim Gebet. Die Säure unreifer Trauben, die an jahrzehntealten Reben hängen und in deren Schatten wir, die gesamte Familie, drei Generationen, zum Essen zusammen kommen. Der Duft von Jasmin-Sträuchern. Die rauen, zerfurchten Hände meines Großonkels, „Parlak“ Mustafa, geboren 1333, Schuhmachermeister. Der Klang des Ezan am frühen Morgen, im Wechsel mit dem Gurren der Tauben. Der Duft frischen Brotes aus dem Steinofen. Streunende Katzen, die über einen Pinienbaum in den Innenhof klettern, wenn der Tisch gedeckt wird. Der Geschmack von „Çamlıca“. Das Salz auf den Lippen am Strand der Ilıca Bucht. Der Rhythmus des Zeybek, die stolze Einsamkeit seines Tänzers. İzmir‘in kavakları, dökülür yaprakları. Das Klappern des Pferdewagens, auf dessen Ladefläche ich als kleiner Junge ein Schaf festhalte. Und bei dessen Schlachtung zum Opferfest ich zwei Tage später helfe. Nie habe ich mit größerer Demut und Dankbarkeit Fleisch gegessen. Mein Großvater, der mir geduldig beibringt, Domino zu spielen. Mit Steinen, die der Schwager meiner Großmutter aus dem Korea-Krieg mitgebracht hat und die heute bei mir im Regal stehen. Das Horn der Bosporus-Fähren. İstanbul’u dinliyorum, gözlerim kapalı.

Unzählige Erinnerungen, das Sich-zu-Hause-Fühlen in zwei Sprachen, in zwei Landschaften, manchmal sehr ähnlich, dann wieder grundverschieden. Zwei Heimatlieben, frei von Eifersucht, ohne den Vorwurf der Untreue.

Es ist ein unfassbares Geschenk, in zwei Ländern, für zwei Länder, mit und in zwei Sprachen so empfinden zu können.

Unverständlich, all die „Diener nur eines Herren“, all die „entweder, oder“ Loyalitätsforderungen, all die „Leitkultur“-Deutschen, die glauben, „über allem“ zu stehen. Meine Erfahrungen – gerade in dieser deutsch-türkischen Vielfalt – sind aber so reich, so übervoll an kulturellen Schätzen, dass eine Hierarchisierung doch nur eine „Leidkultur“ hervorbrächte.

Unverständlich auch, all die leichtfertigen Fahnenschwenker, all die Symbolpatrioten, all die „wiedergeborenen Türken“. Bis gestern nicht in der Lage, zwei Sätze akzentfrei Türkisch zu sprechen, heute im Poltern und Pöbeln versunken, ohne Vorstellung von der lyrischen Pracht der türkischen Sprache, mit einem historischen Bewusstsein, das sich ausschließlich aus fiktionalen Fernsehsendungen speist. Die bis zu ihrem Erweckungserlebnis gänzlich unbefangen, heute das Religiöse mit dem Nationalen so amalgamiert haben, dass es keine aufrechteren Verteidiger ihres unbedingt einzigen Heimatlandes und ihres wahren Glaubens geben kann, als sie, die überzeugt sind, „über allem“ zu stehen. Eine Existenz, die sich aber permanent in Ort und Zeit als entfremdet begreift, kann doch nichts hervorbringen, das andere von der Glaubwürdigkeit des Eigenen überzeugt.

Es ist Lessing, der in seinem Werk „Nathan der Weise“ Rachel fragen lässt: „Und wie weiß man denn, für welchen Erdkloß man geboren, wenn man’s für den nicht ist, auf welchem man geboren?“

Wenn wir als Muslime das Hineingeworfen-Sein in diese Welt nicht bloß als Zufall betrachten – und das können wir nicht, wenn wir unseren Glauben ernst nehmen – müssen wir, hier in Deutschland, erkennen und begreifen: “Ein Teil von ihm sind wir.” Und dieser Teil ist gerade auch deshalb so reich und fruchtbar und wertvoll, weil er ganz besondere Schönheiten mitbringt.

Wer sich dieser Schönheiten bewusst ist, sie kennt und bewahrt, kann sich – „unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert“ – an dem Reichtum erfreuen, zwei Heimaten zu lieben.

 

*Anmerkung: Kurt Tucholsky, Erstdruck in „Deutschland, Deutschland über Alles.“ Berlin: Neuer Deutscher Verlag, 1929. S. 226–231. Der Text ist hier geringfügig gekürzt wiedergegeben.