Nachlese – Teil 2

Im vorherigen Blogbeitrag wurde der gesellschaftliche Resonanzraum hinsichtlich der jüngsten Ereignisse in der Türkei beleuchtet. In diesem Beitrag sollen die Gefahren und Herausforderungen angesprochen werden, die sich aus der gegenwärtigen Situation ergeben.

Angesichts der aufgeheizten gesellschaftlichen Atmosphäre – gerade auch im Zusammenleben der türkischen Community in Deutschland – muss ausdrücklich auf den ersten Teil dieser Nachlese hingewiesen werden. Nur vor dem Hintergrund dieser zusammenhängenden Texte kann die Intention für die vorliegende Bewertung akkurat nachvollzogen werden. Also, falls Teil 1 noch unbekannt ist, zunächst einen Beitrag zurück und diesen zuerst lesen.

Allein die Tatsache, dass ein solcher „Verwendungshinweis“ vorgeschaltet werden muss, zeigt eindrücklich, wie angespannt die Lage aktuell ist und wie groß die Gefahr missverständlicher Wahrnehmungen und entsprechender Reaktionen sein kann. Das bringt uns gleich zum ersten Aspekt, der gerade für das gesellschaftliche Zusammenleben hier in Deutschland von zentraler Bedeutung ist: Konzepte von Kollektivschuld oder Sippenhaft sind völlig inakzeptabel.

Die berechtigte Wut gegenüber einem gewaltsamen Putschversuch in der Türkei darf nicht zu Aggression und Gewaltlegitimation gegenüber Menschen führen, die begründeter Weise oder nur mutmaßlich im gleichen politischen Lager verortet werden, wie die Hintermänner oder Sympathisanten des Putschversuchs in der Türkei.

Selbst fundamentalste Ablehnung und vollständige Zurückweisung politischer oder gesellschaftlicher Gruppierungen kann niemals Gewalt als ein Mittel der Auseinandersetzung legitimieren. Bei diesem Grundsatz kann es keine Ausnahmen oder Einschränkungen geben. Werden rechtswidrige Äußerungen oder Handlungen wahrgenommen oder befürchtet, sind die Sicherheitsbehörden die Ansprechpartner und die Justizbehörden die Entscheidungsträger darüber, ob ein Verhalten rechtmäßig oder rechtswidrig ist. Der Staat hat das Gewaltmonopol und niemand sonst.

Öffentliche Boykottaufrufe oder Zutrittsverbote sind in diesem Fall keine angemessenen Mittel des Protestes. Jeder ist frei darin, seine persönliche Entscheidung darüber, in wessen Gesellschaft er sein will oder wen er als Kunde unterstützen will, für sich selbst zu treffen. Aber wir müssen in dem Bewusstsein für die Gesellschaft handeln, in der wir leben und deren Teil wir sind. Unsere historischen Erfahrungen in Deutschland verbieten uns jede kollektive Stigmatisierung von gesellschaftlichen Gruppen. Jede Benachteiligung im Sinne eines „Kauft nicht bei …!“ oder eines „Kein Zutritt für…!“ ist eine Entsprechung zu historischen Erfahrungen, die wir in unserer deutschen Gesellschaft niemals wieder dulden dürfen. Keine noch so berechtigte Wut kann die Legitimation für ein solches Handeln sein.

Ebenso gilt aus der Perspektive einer islamischen Religionsgemeinschaft: Niemand darf und kann an der Teilnahme am Gottesdienst gehindert werden. Es macht das Wesen des Islam aus, dass es keine Mittler zwischen Allah und seinem Geschöpf gibt. Jeder Mensch hat die Möglichkeit, im Ritual des auch kollektiven Gebets sich in die spirituelle Gegenwart seines Schöpfers zu begeben. Diese Beziehung, diese unmittelbare Ergebenheit kann und darf kein Mensch stören oder verhindern. Niemand, der sich zum Gebet aufstellt, kann wissen, welche Gedanken sein Vordermann oder sein Hintermann oder der Mensch an seiner Seite hat. Niemand kann wissen, welche guten Taten oder welche Sünden derjenige begangen hat, mit dem er Schulter an Schulter zum Ritualgebet steht. Niemand kann wissen, ob jemand im rituellen Gebet als Sünder vor seinen Schöpfer tritt und um Vergebung bittet. Diese Beziehung zu bewerten, steht nur Allah selbst zu. Jeder Versuch, diese Begegnung zu verhindern oder zu verbieten, käme einer Anmaßung göttlicher Erkenntnis und Urteilsfähigkeit gleich, die sich für rechtschaffende Muslime schlichtweg verbietet. Deshalb gilt es mehr denn je, den Frieden und die Ordnung in den Moscheen zu wahren. Jeder, der durch politische Agitation oder Propaganda versucht, diese Ruhe zu stören, sollte sich bewusst sein, dass er damit in der Moschee am falschen Platz ist.

 

Vielfach ist in den letzten Tagen von einem „zivilen Putsch“ die Rede gewesen, wenn angesichts der polizeilichen Maßnahmen im Nachgang des versuchten Militärputsches die Befürchtung geäußert wurde, der zivile Widerstand sei nicht zum Schutz der Demokratie, sondern zum Schutz einer Regierung geleistet worden, die selbst autoritär und antidemokratisch sei. Die türkische Regierung selbst betont, dass in einer außergewöhnlichen Situation auch außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen werden, um die Staatsordnung aufrechtzuerhalten.

Die politische und rechtliche Einordnung dieser Entwicklungen offenbart in ihrer Eindeutigkeit, mit der sie in Politik und Presse hierzulande vorgenommen wird, eine sehr janusköpfige Natur. Natürlich wird auch die türkische Regierung durch ihr zukünftiges Handeln beweisen müssen, dass sie der großen Hypothek, die ihr die eigene Bevölkerung mit dem Einsatz ihres Lebens für den Erhalt eines demokratischen Staatswesens mit auf den Weg gegeben hat, auch gerecht wird.

Allerdings verlieren viele Experten die Erinnerung daran, wie in Ausnahmesituationen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie in den Hintergrund gedrängt werden können. Es bedurfte keines versuchten Militärputsches für die Reaktionen der „Koalition der Willigen“. Ausgelöst durch den Schock der Terroranschläge von New York 2001 sind über 40 Staaten mit einer Begründung, die sich später als bewusste Lüge herausstellte (Stichwort: Massenvernichtungswaffen des Irak), zwei Jahre nach den Anschlägen in den Krieg gegen ein unbeteiligtes Volk gezogen. Die Kriege in Afghanistan und besonders im Irak müssen in der Nachschau als reine Vergeltungsmaßnahmen, als kollektive Bestrafungshandlungen an einer Bevölkerung verstanden werden, die mit den Attentätern von New York nur die Eigenschaft „Muslim“ teilten.

Natürlich kann dies nicht als Rechtfertigung dafür dienen, dass in der Türkei möglicherweise rechtsstaatswidrige Maßnahmen in der Verfolgung der Verantwortlichen des Militärputsches und deren Hintermänner und Unterstützer ergriffen werden. Die Türkei hat jetzt die Gelegenheit zu demonstrieren, dass sie es besser macht.

Strafe hat in jedem Einzelfall nicht in dem größtmöglichen Ausmaß, nicht mit der vollen Härte des Gesetzes sondern wie es sich für einen Rechtsstaat gehört, der Tat und der Schuld jedes einzelnen Täters angemessen und verhältnismäßig zu erfolgen. Je größer die Schuld, desto höher die Strafe. Nach diesen Prinzipien sind die Ereignisse in der Türkei zu ermitteln und aufzuarbeiten. Das gilt auch für Personen, die im Zuge des zivilen Widerstandes die Grenzen der Strafbarkeit überschritten haben mögen. Eine solche Herangehensweise schuldet die türkische Regierung ihrer Bevölkerung, will sie deren historischem Einsatz gerecht werden. Damit kann sie auch all jene Lügen strafen, die diesem Widerstand die demokratische Gesinnung absprechen.

Reflexe, die über das Ziel einer rechtsstaatlichen Aufarbeitung der Ereignisse hinausgehen, müssen in besonnener Weise eingehegt werden. Eine Liberalisierung des Waffenrechts, wie es teilweise diskutiert wurde, kann der türkischen Bevölkerung keinen Segen bringen. Das aktuelle Beispiel der USA zeigt unmissverständlich, das gerade ein Mehr an Waffen in zivilen Händen in Zeiten gesellschaftlicher Spannungen unkontrollierbare Gefahren mit sich bringen. Zivilisten werden im Falle der Gefahr eines erneuten Militärputsches nicht mit Handfeuerwaffen gegen Kampfflieger oder Panzer kämpfen können. Sie laufen aber Gefahr, sich in Krisenzeiten in den Abgründen der Selbstjustiz und der gewaltsamen Verfolgung von Minderheiten oder Andersdenkenden zu verlieren. Das kann keine Regierung wollen, die allen Bürgern den Erhalt der demokratischen Ordnung zu verdanken hat.

 

Gleiches gilt für die Diskussionen um die Wiedereinführung der Todesstrafe. Viel ist darüber in den letzten Tagen gerade in Deutschland gesagt worden. Zunächst gilt es festzuhalten, dass aus der europäischen Perspektive der Gestus der zivilisatorischen Reife in dieser Diskussion keine harte Währung ist. Wir haben kein Problem damit, dass unser NATO-Partner USA die Todesstrafe praktiziert. Gleiches gilt für wichtige Handelspartner wie China oder Saudi-Arabien.

Von der EU als europäische Wertegemeinschaft zu sprechen, in der die Todesstrafe kategorisch abgelehnt werde, ist angesichts der tatsächlichen Umstände moralisch unaufrichtig und argumentativ kurzsichtig. Wir haben in dieser Wertegemeinschaft kein Problem damit, dass selbst von deutschem Boden aus Kampfdrohnen gesteuert oder unterstützt werden, die anderswo Menschen – ohne Gerichtsurteil und ohne Rücksicht auf zusätzliche Opfer in der Zivilbevölkerung in der Nähe des Angriffsziels – per Knopfdruck exekutieren.

Darüber hinaus ist die Drohung mit der Beendigung der EU-Beitrittsperspektive angesichts der bisherigen Länge der Verhandlungen und des tatsächlichen politischen Meinungsbildes im Kreise der EU-Mitglieder wohl ein zahnloser Papiertiger.

Und ich will hier auch kein juristisches Fachgespräch zu den Rechtsprinzipien führen, die sich aus dem kontinentaleuropäischen Rechtsverständnis ergeben, welche in der Formel „nullum crimen, nulla poena sine lege scripta, praevia, certa et stricta“ ergeben, wie zum Beispiel das Rückwirkungsverbot oder des Verbots strafbegründenden Gewohnheitsrechts. Wer daran interessiert ist, möge es nachschlagen.

Es gibt aber ein viel gravierenderes und meiner bescheidenen Ansicht nach die Zukunft der Türkei entscheidend bestimmendes Argument gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe. In diesem Punkt muss sich die Türkei natürlich von niemandem etwas sagen oder auferlegen lassen. Es sollte sich in diesem Punkt aber selbst beschränken, gerade um dem Einsatz und dem Widerstand seiner Bürger gegen einen Militärputsch Anerkennung und Hochachtung zu zollen.

Denn im historischen Bewusstsein der Türkei hallen folgende Sätze noch nach: “Şimdi ben, bunu yakaladıktan sonra mahkemeye vereceğim ve ondan sonra da idam etmeyeceğim, ömür boyu ona bakacağım. Bu vatan için kanını akıtan bu Mehmetçiklere silah çeken o haini ben senelerce besleyeceğim. Buna siz razı olur musunuz?” (Sinngemäß: „Also jetzt soll ich, nachdem ich ihn festgenommen habe, dem Gericht übergeben und ihn dann nicht hinrichten sondern ein Leben lang versorgen. Jemanden, der die Waffe erhoben hat gegen Soldaten, die ihr Blut für dieses Vaterland vergossen haben, so einen Verräter soll ich jahrelang durchfüttern. Könnt ihr das mit eurem Gewissen vereinbaren?“)

Das sind die Worte Kenan Evrens, des Generals, der am 12. September 1980 den letzten Militärputsch der türkischen Geschichte befohlen hat. Er hat dies im Fall Erdal Erens gesagt. Erdal Eren wurde trotz fragwürdiger Beweislage wegen der Ermordung eines Soldaten zum Tode verurteilt. Die Revisionsinstanz hob das Urteil zweimal auf – auch wegen Indizien, die darauf hindeuteten, dass der Angeklagte noch minderjährig sein könnte –, bis es in letzter Instanz doch zur Bestätigung des Todesurteils kam. Erdal Eren wurde am 13. Dezember 1980 in Ankara im Alter von vermutlich 19 Jahren hingerichtet.

Auch wenn unter dem Eindruck des versuchten Militärputsches der Schock in der türkischen Gesellschaft nachvollziehbarer Weise momentan das Denken und Handeln bestimmt. Auch wenn die Entrüstung gegenüber den Putschisten und ihren Unterstützern grenzenlos ist. Ein Staat mit diesen Erfahrungen sollte nicht aus Rache handeln. Ein Staat, der die Abgründe mehrere Militärregime erlebt hat, eine Bevölkerung, die am 15. Juli erneut in diesen dunklen Abgrund geschaut hat, muss sich davor hüten, dass dieser Abgrund nun sein Handeln bestimmt. Es muss jetzt deutlich werden, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, wofür sich die Menschen unter Einsatz ihres Lebens eingesetzt haben und dem, was es zu verhindern galt. Das ist jetzt die historische Gelegenheit der Türkei.