Schämt euch!

Drei Dinge gilt es, entschieden festzuhalten.

Erstens: Nach der Armenier-Resolution am 02.06.2016 ist die darauffolgende Kritik an dem Beschluss des Bundestages und insbesondere an dem Stimmverhalten der türkischstämmigen Abgeordneten in ihrer Vehemenz, in Inhalt und Ton mehr als überzogen. Was in sozialen Medien und in der türkischsprachigen Presse teilweise zu lesen ist, überschreitet die Grenze zu strafrechtlich relevantem Verhalten und ist nicht akzeptabel. Beschimpfung und Bedrohung von Parlamentariern sind nicht hinnehmbar, sondern entschieden zu verurteilen. Punkt. Kein Wenn, kein Aber, kein Jedoch. Einfach Punkt.

Die Grenzen der Toleranz gegenüber kritischen Reaktionen hören nicht erst dort auf, wo die Strafbarkeit des Handelns beginnt. Sie sind bereits deutlich vorher, gerade im Bereich der nichtstrafbaren Äußerungen zu ziehen. Denn auch legale aber unangemessene Tiraden vergiften das gesellschaftliche Klima und verrohen die Atmosphäre, in der wir Meinungsverschiedenheiten und auch gesellschaftliche Konflikte austragen müssen.

Gerade türkischstämmige, muslimische Menschen wissen nur zu gut, welche Folgen eine sich radikalisierende Sprache haben kann. Sie sind in der Vergangenheit häufig genug Ziel von Angriffen geworden, die ihren gedanklichen Ausgang in hetzerischen, entmenschlichenden, herabwürdigenden Beschimpfungen hatten. Umso größer muss nun die Sensibilität gegenüber ähnlichen Ausfällen sein, die ihren Ursprung in türkisch-muslimischen Kreisen haben. Ein solches verwerfliches Verhalten ist zu allererst schon religiös vollkommen inakzeptabel. Und auch aus einer nichtreligiösen Haltung heraus kann ein solcher Umgangston nicht als legitim betrachtet werden.

Niemand muss um sein Leben oder körperliches Wohl fürchten müssen, nur weil er eine andere Meinung hat. Niemand darf entmenschlicht werden, niemand darf bedroht werden. An diesem Punkt kann es keine Diskussion oder Rechtfertigung geben. Das ist der Minimalkonsens zivilisierten gesellschaftlichen Miteinanders.

 

Zweitens: Die Zeit ethnisch-kultureller Identitätspolitik ist unwiderruflich vorbei. Die Kritik an den türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten, von denen keiner gegen die Resolution gestimmt hat, ist der Ausdruck eines grundlegenden Bruches. „Der erste türkischstämmige Sowieso“ zu sein, „Die erste türkischstämmige Sowieso“ zu sein, war in der Vergangenheit wichtiger Bestandteil der Wähleransprache. Die türkischstämmigen Abgeordneten waren Sinnbild für das Ankommen, Teilhaben und Mitgestalten einer demokratischen Gesellschaft, die für jede Bürgerin und jeden Bürger auch nach oben durchlässig ist. Im politischen Feld waren sie das Versprechen, gehört zu werden, eine Stimme zu haben, politisch wahrgenommen zu werden. Und zwar ausdrücklich mit einer auch türkischen Identität. Das war nicht nur eine Projektion der Wähler, sondern ausdrücklich die Botschaft, das Versprechen der Abgeordneten selbst.

Diese Versprechen ist jetzt nichts mehr wert. Es ist nachvollziehbar, dass Abgeordnete immer nervöser Richtung Listenplatz schielen, je näher die Bundestagswahlen rücken. Es erfordert persönlichen Mut, sich auch in einer solchen Situation gegen eine Fraktions- oder gar eine Parlamentsmehrheit zu stellen. Aber es wäre Ausdruck parlamentarischer Reife gewesen, sein persönliches Mandat so zu interpretieren, dass es auch als Übermittler eines breiten Meinungsbildes gerade der Community verstanden wird, die man stets zu vertreten vorgegeben hat.

Von keinem der türkischstämmigen Abgeordneten ist bekannt, dass er oder sie auch nur ansatzweise der Ablehnung in weiten Teilen der türkischen Community eine Stimme gegeben hätten.

Zu einer parlamentarischen Befassung mit dem Gegenstand der Resolution hätte es aber auch gehört, dieses Meinungsbild abzubilden und im Bundestag selbst wahrnehmbar werden zu lassen. Dazu konnte sich keiner der türkischstämmigen Abgeordneten durchringen. Allein der Abgeordneten Bettina Kudler (CDU) war es zu verdanken, dass dieses Meinungsbild mit einer einzigen Nein-Stimme parlamentarischen Ausdruck erlangt hat, was das Versagen der türkischstämmigen Abgeordneten in ein noch grelleres Licht stellt.

Nicht nur in Bezug auf das konkrete Thema der Resolution ist eine solche durchgehend indifferente und enttäuschend distanzierte Interpretation des parlamentarischen Mandats türkischstämmiger Abgeordneter ein Wendepunkt. Viel nachhaltiger und schädlicher war die in ihrer Gesamtheit als kollektive Ignoranz wahrgenommene inhaltliche Gleichgültigkeit der Abgeordneten gegenüber der Haltung vieler türkischstämmiger Bürger.

Ihr Verhalten im Vorfeld aber auch unmittelbar nach der Abstimmung signalisiert die destruktive Botschaft, dass türkischstämmige Bürger vom deutschen Parlamentarismus nichts, erst recht keine Vertretung ihrer Positionen, zu erwarten haben. Die türkischstämmigen Abgeordneten fungieren damit gerade nicht als Vertreter türkischstämmiger Bürger, sondern als Türsteher, die rigoros ablehnend ein „Du kommst hier nicht rein!“ von sich geben.

Dabei hätte es genug Möglichkeiten gegeben, auch andere Signale zu senden. Zumindest der Hinweis und die Thematisierung der breiten Ablehnung der völkerrechtlichen Kategorisierung durch türkischstämmige Bürger hätte sich im Parlament wiederfinden müssen. Die relativierende, historisch und sachlich völlig abwegige Gleichsetzung des Holocaust mit dem als „beispielhaft“ für eben jenen Holocaust zitierten Gegenstand der Resolution hätte angesprochen werden können. Die Janusköpfigkeit, mit der vermeintlich eine deutsche Verantwortung thematisiert wird, hätte als solche entlarvt, als unvollständige historische Reflexion herausgearbeitet und im Verhältnis zum parlamentarischen (Des-)Interesse an dem ersten deutschen Völkermord in Namibia als unaufrichtig kommentiert werden können. Nichts dergleichen ist geschehen.

Und selbst wenn eine solche inhaltliche Positionierung nicht dem Gewissen der Abgeordneten entsprochen haben mag, selbst wenn sie der Mut verlassen haben mag, so gab es doch auch eine letzte Möglichkeit, wenn nicht der Meinung türkischstämmiger Bürger, so doch wenigstens der Würde des Bundestages Achtung zu zollen. Unmittelbar nach der Abstimmung wurden in den Publikumsrängen des Bundestages Plakate hochgehalten, Nationalflaggen geschwenkt und lobend die Namen türkischstämmiger Abgeordneter skandiert. Ein unwürdiges Schauspiel, das im Bundestag nicht zugelassen ist, dem jedoch niemand Einhalt geboten hat. Es ist nicht bekannt, dass der Bundestagspräsident zu Ordnungsmitteln gegriffen oder einer der Abgeordneten dies gefordert hätte.

Was von diesem Verhalten türkischstämmiger Abgeordneter bleibt, ist die innere Abkehr vieler türkischstämmiger Bürger vom deutschen Parlamentarismus. Diesen negativen Tendenzen müssen nun zivilgesellschaftliche Kräfte entgegenwirken. Die kulturelle Identitätspolitik der auf dem Ticket „türkischstämmig“ fahrenden Politiker hat ihre Glaubwürdigkeit jedenfalls restlos verloren. Eine gesellschaftliche Stimme geben die türkischstämmigen Abgeordneten nunmehr nur noch sich selbst.

 

Drittens: Die wutschäumenden Reaktionen innerhalb der türkisch-muslimischen Community auf die Tatsache, dass türkischstämmige Politiker und Bundestagsmitglieder – gerade auch solche, die für die Resolution gestimmt haben – zu Iftar-Empfängen eingeladen werden, sind Ausdruck einer selbstgerechten, bigotten, glaubensvergessenen, bräsigen, larmoyanten und allzu bequemen Impertinenz! Die aufgeplusterte Entrüstung und hämische Kommentierung dieser Einladungen offenbart eine Geisteshaltung, die dringend einer inneren Einkehr und Läuterung bedarf – gerade im Ramadan.

Alle politischen und gesellschaftlichen Akteure der türkischstämmigen Vereinslandschaft überbieten sich all die Jahre und jedes Jahr aufs Neue in einer schlafmützigen Ignoranz und Lethargie, um sich dann regelmäßig Mitte April daran zu erinnern, dass es so etwas wie einen Gedenktag gibt, gegen den man jetzt auf die Schnelle noch protestieren will.

Niemand macht sich die Mühe, die von ihm vertretene Position über 51 Wochen hinweg auf unterschiedlichste Weise darzulegen, zu erläutern und zu verbreiten. Niemand kommt auf die Idee, Abgeordnete gerade auch zu diesem Thema einzuladen und die eigene Position überzeugend zu erläutern. In der 52. Woche aber erwacht man aus dem Dornröschenschlaf der Selbstgerechten und will dann den großen vaterländischen Aktivisten geben.

Man entwirft türkischsprachige Plakate und Proklamationen – um eine deutschsprachige Zielgruppe anzusprechen (sic!) – und hat nichts Kreativeres zu bieten, als – Masse statt Klasse – eine großspurige Demonstration anzukündigen. An der nehmen aber die meisten Menschen – die den inhaltlichen Protest eigentlich teilen – gar nicht teil, weil ihnen die Gesellschaft mit nationalistischen, gewaltaffinen Randgruppen unangenehm ist. Und statt sich dieses alljährlichen Dilettantismus bewusst zu werden, suchen die selbstverhinderten Volkshelden dann die Schuld bei Dritten.

Es reicht! Begreift endlich, dass es keine homogene Masse gibt, die auf die Straßen strömt, nur weil einzelne glauben, ihre Meinung sei der Weisheit letzter Schluss. Kapiert endlich, dass eine Behauptung, nur weil sie von vielen gebrüllt wird, nicht an Überzeugungskraft gewinnt. Seht endlich ein, dass man durch Inhalte überzeugt und nicht durch Fahnenschwenken.

Und erkennt endlich den Unterschied zwischen politischen Interessenvertretungen und einer Religionsgemeinschaft!

Die DITIB ist eine Religionsgemeinschaft und kein Selbstbedienungsladen für selbstermächtigte Herostraten. Die DITIB Gemeinden sind nicht dumm, ignorant oder rückgratlos, wenn sie Menschen zum Iftar einladen, mit denen sie nicht einer Meinung sind. Sie leben vielmehr vor, dass kein Konflikt, keine Auseinandersetzung uns vergessen lassen darf, dass Menschen sich stets mit gegenseitigem Respekt und Achtung zu begegnen haben.

Selbst wenn diese Achtung der eigenen Person oder Position gegenüber nicht erbracht wird, schickt es sich für Muslime, dem Gegenüber dennoch mit Offenheit und Einladung zu begegnen. Gemeinsam an einem Tisch kann man Menschen davon überzeugen, wovon man selbst überzeugt ist. Man kann ihnen auch erklären, was man an ihrem Verhalten falsch findet. Das ist die rechte Weise eines gesellschaftlichen Umgangs, den die Empörten nicht verstehen, weil sie ihn sich nie wirklich angeeignet haben.

Im Koran heißt es: „Nicht gleich sind die gute Tat und die schlechte Tat. Wehre mit einer Tat, die besser ist, die schlechte ab, dann wird derjenige, zwischen dem und dir Feindschaft besteht, so, als wäre er ein warmherziger Freund.“ (Sure 41, Vers 34). Das ist die Handlungsanweisung für eine Religionsgemeinschaft und ihre Mitglieder, nicht die „Verrat!“ Rufe und hasserfüllten Aufforderungen, Menschen den Zugang zu einer Iftar-Tafel zu verwehren.

Mit all den Beschimpfungen und Drohungen in Sozialen Medien und mit telefonischen Tiraden haben es die revanchistischen Menschenhasser erreicht, dass der alljährliche Iftar-Empfang des DITIB Bundesverbandes in der Şehitlik Moschee in Berlin dieses Jahr aus Sicherheitsgründen und wegen der Sorge, einen religiösen Empfang nicht mit der dafür notwendigen Würde ausrichten zu können, abgesagt werden muss.

Das hat keine rechtsextremistische Gruppe bislang geschafft. Das ist bislang keinem Pegida-Mob gelungen. Das ist der „Erfolg“, den sich türkischstämmige, muslimische Menschen jetzt ans Revers heften können.

Für die praktizierenden Muslime unter ihnen gilt: Wer die Versöhnungsbotschaft des Islam so wenig verstanden hat, wer immer nur mit Gleichgesinnten am Iftar-Tisch sitzen will, sollte sich nicht die Mühe machen, zu fasten.

Für alle aber gilt dieses: Schämt euch!