Die Mehmetebene

Kürzlich wurde auf diesem Blog der Fall Böhmermann juristisch beleuchtet. Mit dem erklärten Ziel, die Prozessrisiken und juristischen Schwierigkeiten bei der Frage der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht darzulegen. Verbunden auch mit der Hoffnung, dass eine sachliche und kühle Erörterung der juristischen Fakten zur objektiveren Einordnung des Sachverhalts beitragen möge.

Wie in jenem Beitrag angekündigt, soll an dieser Stelle nun die gesellschaftliche Dimension des Falles betrachtet werden. Es ist – kurz gesagt – ein Trauerspiel. Schon in der Böhmermannschen Darbietung selbst, mehr noch in der erstaunlich breiten und emotional geprägten medialen Aufarbeitung im Anschluss an die Ausstrahlung der Sendung, offenbart sich die ganze Schwere der deutsch-türkischen Beziehungen. Und damit ist nicht die zwischenstaatliche Diplomatie gemeint.

Gewichtiger und für unser Zusammenleben prägender ist die tiefe Dissonanz innerhalb des deutsch-türkischen Seelengeflechts hier vor Ort.

Schon zu Beginn war dieses Verhältnis nicht auf dauerhaftes Gelingen angelegt. Die Türken waren seit Beginn der Arbeitsmigration ein provisorischer Faktor. Zweifellos gab es auf persönlicher, nachbarschaftlicher Ebene viele auch enge Kontakte voller Wärme und Hilfsbereitschaft. Die große Politik hat jedoch stets eine emotionale Kluft zu wahren gesucht. Für türkischstämmige Menschen, die etwa zum Zeitpunkt des Anwerbestopps 1973 in Deutschland geboren oder hier angekommen und aufgewachsen sind, ist das deutsch-türkische Verhältnis stets von Befremden und Irritation geprägt gewesen. Jedenfalls ging es mir so.

Ich bin 1973 in Lübeck geboren worden. Ich bin in einem Land aufgewachsen, das in den 80er Jahren Rückführungsprämien gezahlt hat. Also Menschen dafür bezahlt hat, dieses Land zu verlassen. Als ich unseren damaligen Nachbarn zusah, wie die materielle Manifestation ihres ganzen Lebens in einem LKW untergebracht wurde und sie aufbrachen in eine Heimat, welche die Kinder in meinem Alter nur aus dem Urlaub kannten, wusste ich nicht, was ich davon halten soll. Wie soll ich hier ein Heimatgefühl empfinden, wenn mich der Staat dafür bezahlt, ein solches eben bloß nicht zu entwickeln?

Ich habe das deutsch-türkische Verhältnis immer als Zweckgemeinschaft, als Vernunftehe empfunden. Um es provokativer zu sagen, vielleicht als Zwangsehe. Dem einen Partner ist die Beziehung nützlich, er verbindet damit auch nur rationale Aspekte der Zweckmäßigkeit und Dienlichkeit. Der andere Partner ist materiell abhängig, nicht in der Lage, die Beziehung zu beenden. Er hat sich eingerichtet und tröstet sich durch Bequemlichkeiten darüber hinweg, ohne Zuneigung leben zu müssen. Gewiss ist dieses Bild unvollständig oder verzerrt.

Es beschreibt aber die Paradoxie der jahrzehntelang postulierten Aufforderung zur Integration, bei gleichzeitig stetiger gesellschaftlicher Zurückweisung. Fordern ohne Fördern.

Ein solcher Moment war beispielsweise die Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, durch den damaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch populistisch inszeniert zum „Wo kann man hier gegen Türken unterschreiben?“. Oder die Trauerfeier nach dem Brandanschlag in Solingen Anfang der 90er Jahre, als der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl öffentlich erklärte, er werde sich nicht am Beileidstourismus beteiligen. Stellvertretend nahm Klaus Kinkel an der Trauerfeier teil. Als Außenminister. Denn ermordet worden waren ja nur „Ausländer“, also Fremde.

Wenige Jahre zuvor, gab es einen Moment der Annäherung, des Dazugehörens. Nämlich als die Mauer fiel. Für einen kurzen Augenblick der Geschichte war der „Ossi“ der Ausländer. Die Türken gehörten zu den Einheimischen, zu denen, die hier zu Hause waren. Es gab „Ossi-Witze“ die gingen so: Versucht sich ein „Ossi“ bei Aldi an der Kasse vorzudrängeln. Ruft der Türke in der Schlange „Stell dich gefälligst hinten an! Wir waren vorher hier!“

Damit war es aber schnell vorbei. Mit den Rufen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda, mit den Anschlägen in Mölln und Solingen war schnell klar, wer hier zu Hause ist und wem welcher Platz in der Gesellschaft gebührt.

Unter großem gesellschaftlichem Applaus durfte dann auch mal endlich gesagt werden, dass die Türken kaum mehr zur Produktivität dieses Landes beitragen, als Taxis zu fahren, Gemüse zu verkaufen und Kopftuchmädchen zu zeugen. Ein Satz, der die Lebenswirklichkeit vieler Deutschen beschreibt, die den „Ali“ nur vom Gemüsestand oder als Taxifahrer kennen, sich mit „Ali“ aber nie auf einer Geburtstagsfeier unterhalten haben. Gleichzeitig ist das ein Satz, der den Kumpel „Ali“, der sich durch harte Arbeit im Bergbau oder in der Schwerindustrie um seine Gesundheit geschuftet hat, um den Stolz auf seine Lebensleistung betrügt.

Nun mag das für deutsche Ohren vielleicht wehleidig oder mimosenhaft klingen. Aber Türken sind emotional. Auch ihr Verhältnis zum Staat ist emotional geprägt. Der Staat ist „devlet baba“, „Vater Staat“. Das Heimatland ist „Anavatan“, „Mutterland“. Interessanterweise heißt es im Deutschen „Vaterland“. Der Türke liebt sein Mutterland, er will stolz sein auf sein Mutterland. Dem Deutschen ist angesichts der historischen Erfahrungen jede „Vaterlandsliebe“, gar Stolz auf das „Vaterland“ suspekt.

Die oben beschriebenen Erfahrungen der Ablehnung oder der Nichtachtung werden kaum durch positive Erfahrungen der Triangulierung zwischen Vater- und Mutterland aufgefangen. Von deutscher Seite gab und gibt es wenig Interesse an allem Türkischen. Ein intensives Verhältnis, vergleichbar der deutsch-französischen Freundschaft, hat sich nie entwickelt.

Nun haben Deutschland und die Türkei keine gemeinsamen Grenzen. Aber sie haben gemeinsame Menschen, etwa 3 Millionen. Dennoch blieb das Verhältnis distanziert. Der Deutsche kann heute formvollendet seine Tagliatelle alla emiliana bestellen, seinen Montepulciano ordern und sich „mille grazie!“ für den Espresso macchiato bedanken. Aber mit dem stummen türkischen Dehnungs-g kommt er auch nach 50 Jahren noch nicht klar.

Das Land der Dichter und Denker kann die Rührung nicht nachempfinden, die der Türke bei Versen eines Orhan Veli oder eines Cahit Sıtkı Tarancı empfindet. „Bakakalırım giden geminin ardından; Atamam kendimi denize, dünya güzel; Serde erkeklik var, ağlayamam.“ Die stille Verzweiflung in diesen Zeilen bleibt ihm verborgen. „N’eylersin ölüm herkesin başında. Uyudun uyanamadın olacak. Kim bilir nerde, nasıl, kaç yaşında? Bir namazlık saltanatın olacak. Taht misali o musalla taşında.“ Die Melancholie, das Gefühl des „Hüzün“ in diesen Versen kann er nicht nachempfinden.

Statt sich für die Gedichte des Türken zu interessieren, schreibt der Deutsche halt lieber selbst Gedichte. Und die Böhmermann-Nummer hat bewusst oder fahrlässig den deutschen Blick auf das Türkische konzentriert auf den Moment der Verachtung. Sie hat genau jene Saiten angeschlagen, die in der türkischen Seele nach über 50 Jahren Migrationserfahrung schmerzen. Sie wurde verstanden als die dominante Geste des Hausherren, mit der er den ewigen Gast auf seinen Platz verweist. Der Anspruch mag ein anderer gewesen sein. Die kalkulierte oder vielleicht auch im Nachhinein hineininterpretierte satirische Raffinesse konnte in und gerade wegen der Inszenierung nicht verstanden werden.

Denn Böhmermann hat in dem Moment, in dem er die türkische Flagge im Hintergrund hat einblenden lassen, sein türkisches Publikum verloren. Ab diesem Zeitpunkt konnte die Nummer für den türkischen Empfänger nicht mehr nur als Schlagabtausch zwischen Böhmermann und Erdogan begriffen werden.

Vielleicht hat Böhmermann mit der Verwendung stereotyper Beschimpfungen gerade der deutschen Verachtung den kritischen Spiegel vorhalten wollen. Vielleicht muss man ihm – im Zweifel für den Satiriker – diese Absicht zugestehen, die Nummer auf eine Metaebene transformiert haben zu wollen. Aber auf der Mehmetebene blieb nur der Geschmack des verkrusteten Ressentiments gegen den stinkenden türkischen Sodomisten.

In der medialen Besprechung dieser Inszenierung war sie dann wieder da, die Geste der kulturhierarchischen Belehrung über Kunst und Satire, Freiheit und Demokratie. Das verächtliche Ausspucken wurde uminterpretiert zum kritischen Räuspern.

Die klügste Geste der Bundeskanzlerin war die öffentliche Bekundung, das Gedicht als bewusst verletzend bewertet zu haben. In diesem Moment war sie die Kanzlerin auch der türkischstämmigen Bürgerinnen und Bürger. Natürlich spielt diese Bewertung keine Rolle für die juristische Würdigung des Falles. Und das hätte sie auch deutlich hinzufügen können und sollen. Und der Bezug dieser Bewertung nur auf das Gedicht und nicht auf die gesamte Inszenierung hätte diese Äußerung in ihrer Differenziertheit sogar glaubwürdiger gemacht.

Es ist aber symptomatisch für die deutsch-türkische Beziehung, dass sie ausgerechnet diesen Satz nun öffentlich als Fehler bezeichnet und erklärt, sich darüber geärgert zu haben. Sie erklärt den Moment der Empathie für die türkische Rezeption der Böhmermann-Nummer zum ärgerlichen Fehler. Und hier liegt auch die ganze gesellschaftliche Tragik des Falles.

Politiker und Medien überbieten sich regelmäßig in der Entrüstung über Erdogan-Sätze zur Assimilation als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie beklagen sich über einen tatsächlichen oder vermeintlichen Einfluss der Türkei auf türkischstämmige Menschen in Deutschland.

Dabei merken sie nicht, dass Erdogan nur eine Lücke füllt – und das nicht einmal besonders geschickt. Wir leugnen seit Jahren, dass es eine hybride deutsch-türkische Identität geben kann. Wir verstehen auch nach 15 Jahren Islamdebatte „Deutsch“ und „Muslim“ immer noch als einander ausschließende Begriffe, obwohl es sich um unterschiedliche Kategorien handelt. Wir fragen hier in Deutschland geborene Menschen, warum sie so gut Deutsch sprechen. Oder wo sie „wirklich“ herkommen.

Dafür, dass junge Menschen, deren einzige soziale Realität sich hier in Deutschland abspielt, sich dennoch von dieser Gesellschaft abwenden, ist nicht Erdogan verantwortlich. Das haben wir ganz allein geschafft.