Nakba – Die große Katastrophe

Ein Kommentar zum Nahostkonflikt aus muslimischer Perspektive ist immer schwierig. Sagt oder schreibt man etwas, droht der Vorwurf, man habe diesen oder jenen Aspekt des Konflikts, diesen oder jenen historischen Kontext außer Acht gelassen, nicht angemessen berücksichtigt, ja vielleicht sogar wissentlich unterschlagen. Eine solche Unvollständigkeit reicht bereits aus, um von den Betroffenen einer der beiden Seiten des Konflikts als Apologet der jeweils anderen Seite verurteilt zu werden. Also flüchten sich viele Stimmen in eine möglichst unparteilich erscheinende Stille oder in Aufrufe zur Deeskalation, in eine möglichst unverbindliche Abwägung des Verhaltens „beider Seiten“.

Auf muslimischer Seite wird aber der Nahostkonflikt zunehmend als ein Ausdruck des religiösen Bekenntnisses stilisiert. „Wie hältst Du es mit Israel?“ ist mittlerweile zu einer innermuslimischen Gretchenfrage mutiert, bei der nur noch uneingeschränkt antijüdische Antworten als korrektes Glaubensbekenntnis akzeptiert werden. Jede Einschränkung, jeder Zweifel, jede Kritik an den Auffassungen oder Aktionen der muslimischen, also palästinensischen Seite werden als Zeichen des Glaubensabfalls, des Verrats und der Gewissenlosigkeit verachtet. Der Antisemitismus droht zur sechsten Säule der islamischen Glaubensgrundsätze zu werden.

Am kommenden Wochenende stehen uns nicht nur muslimische Feierlichkeiten zum Ende des Ramadan bevor, sondern auch antiisraelische Protestkundgebungen am 15. Mai, zum Nakba-Tag – zur Katastrophe der Vertreibung der Araber aus dem Territorium des Staates Israel. Gerade auch in dieser Ambivalenz des Tages findet die Schwierigkeit des Konflikts ihren Ausdruck: Die Feier zur Staatsgründung der einen Seite ist die Katastrophe der Vertreibung für die andere Seite.

Und was diesen Tag ebenfalls als Brennpunkt des gesamten Konflikts, als Konzentrat aller Emotionen dieses Konflikts prägt, ist die Tatsache, dass er nunmehr seit über 70 Jahren nicht zum Anlass genommen wird, sich für eine Aussöhnung, um Vergebung und die Bewältigung der Herausforderungen einer friedlichen Koexistenz einzusetzen.
Nein, dieser Tag wird insbesondere von der muslimischen Seite immer wieder zum Anlass genommen, Geschichte nicht Geschichte werden zu lassen, sondern als immer wiederkehrende Katastrophe zu beleben. Wunden sollen nicht heilen. Narben sollen immer wieder aufgeschnitten, aufgebrochen werden, damit der Schmerz und das Leid sich unaufhörlich wiederholen mögen und damit zur einzigen, dominierenden Erfahrung und Motivation innerhalb dieses Konflikts erstarren.

Ein Leben in der permanenten Vergangenheit

Der muslimische Blick richtet sich in diesem Konflikt stets nur in die Vergangenheit. Die muslimischen Beteiligten dieses Konflikts haben sich selbst dazu verdammt, nie nach vorne zu schauen, nicht nach Möglichkeiten zu suchen, die eigenen Lebensbedingungen in den Konfliktgebieten und darüberhinaus im geistigen Zuhause dieses Konflikts zu verbessern. Die Katastrophe muss immer wieder aufs Neue reanimiert werden, neu durchlebt werden, der historische Schmerz muss zu ganz konkreten Wunden und Verletzungen im Hier und Heute werden. Nur so lässt sich sicherstellen, dass die Ursachen dieses Leids immer nur in dem Gegner, immer nur in der Tatsache seiner Existenz gesehen wird und nie als Folge der eigenen Einstellungen und Handlungen.

Die Ursache des Schmerzes soll sich auf die bloße Tatsache reduzieren, dass es Israel gibt, dass es Juden gibt. Damit ist der Ausweg aus diesem Schmerz immer nur die Änderung dieses Zustandes, nämlich das Ziel einer Zukunft ohne Israel und ohne Juden.

Das ist die eigentliche Nakba, die eigentliche Katastrophe dieses Konflikts. Auf muslimischer Seite dominiert eine „Israelkritik“, die sich nur als sachliche Kritik der israelischen Regierungspolitik tarnt. In Wirklichkeit ist es tiefster Antisemitismus, der in das Zentrum dieses Konflikts – im Hinblick auf Ursache und Lösung – die Existenz Israels und damit aller israelischen Juden stellt.

Mir ist bei all den muslimischen Solidaritätsbekundungen, bei all den „Free Palestine“-Memes, bei all den Beschreibungen des palästinensischen Selbstverständnisses auf Anti-Israel Demonstrationen nie eine Manifestation des Willens zur friedlichen Koexistenz aufgefallen. Die wiederkehrende Verbrennung israelischer Fahnen ist vielmehr der symbolische Ausdruck eines vollständigen Vernichtungswillens – des Willens, es möge von diesem Staat und seinen Symbolen nur noch Asche übrig bleiben. Muss ich bei einer solchen Symbolik noch erläutern, was das für Muslime in Deutschland und die Wahrnehmung ihrer Demonstrationen bedeutet?

Die vielen Illustrationen der topografischen Umrisse Israels, ausgefüllt mit den Farben der palästinensischen Flagge, machen deutlich, dass in einer solchen Zukunft Palästinas kein Platz für Israel ist. Die eingeforderte Freiheit Palästinas ist die vollständige Beseitigung von allem, was heute Israel ist. Das ist das historische Mindset der Muslime zum Zeitpunkt der Gründung Israels. Und er hat sich bis heute kaum verändert.

Im Dezember 2017 schrieb ich auf dieser Blogseite anlässlich der antisemitischen Ausschreitungen am Brandenburger Tor in Berlin u.a. folgende Zeilen:

„(…) In Deutschland darf es keinen Judenhass geben. In Deutschland dürfen keine jüdischen Symbole, auch solche des Staates Israel nicht, zerstört oder beschädigt werden. Das Verbrennen israelischer Fahnen ist ein Verstoß gegen die Grundprinzipien des Anstandes in Deutschland. Wer das nicht versteht, ist und bleibt fremd in diesem Land.

Wer am Brandenburger Tor Judenhass propagiert und weiße Laken mit blauen Davidsternen verbrennt, muss wissen, was das an diesem Ort bedeutet. Durch das Brandenburger Tor sind jene in Fackelzügen marschiert, die wenige Jahre später ihre jüdischen Nachbarn in Deportationszüge und damit millionenfach in die Flammen der KZ-Krematorien getrieben haben.
Unweit des Brandenburger Tores sind Worte und Gedanken verbrannt worden, nur weil jüdische Autoren sie geschrieben haben. (…)

Wer am Brandenburger Tor mit guten Gründen und zu Recht gegen israelische Siedlungspolitik demonstrieren will, sollte zunächst an jedem einzelnen der 2711 Betonstelen des Holocaust-Mahnmals entlanggehen, die daran erinnern, dass in diesem Land für Millionen von jüdischen Menschen nur ein Grab in den Wolken vorgesehen war. Vielleicht fällt ihm dann auf, was es bedeutet, wenn man Mitten in Berlin jüdische Symbole verbrennt. (…)

Ähnliches gilt mit Blick auf die Parolen, die am Brandenburger Tor skandiert wurden. „Chaibar, Chaibar, ya yahud, dschaisch Mohammed saya‘ud!“ ist kein israelkritischer Slogan. Er ist in allen seinen Dimensionen, historischen Bezügen und aktuellen Implikationen ein Schlachtruf zur militanten Mobilisierung gegen Juden allgemein. Und das Mitten in Deutschland.(…)

Aus all dem wird deutlich, dass eine solche Parole kein Ausdruck legitimen Protestes oder kritischer Meinungsäußerung ist. Wenn sie am Brandenburger Tor skandiert wird, ist sie mindestens als Bedrohung und Einschüchterung aller Juden Berlins gemeint und auch so zu verstehen. Das ist inakzeptabel. Das ist die Erklärung, nicht zum friedlichen Zusammenleben in einer religiös vielfältigen Gesellschaft bereit zu sein. Das ist eine Kampfansage gegen die pluralistischen Grundpfeiler unseres Landes. Und das ist gleichzeitig Ausdruck der Nichtachtung des Gedenkens an die Opfer der Shoa. Niemand von uns, gleich welchen Glaubens oder Nichtglaubens, sollte dieser Entwicklung gegenüber gleichgültig bleiben.

Seit der Staatsgründung Israels ist die muslimische Seite dieses Konflikts (und damit sind nicht nur die unmittelbar betroffenen Palästinenser, sondern Muslime weltweit gemeint) gefangen in einer höchst destruktiven Realitätsverleugnung. Eine, die sich bereits an der faktischen Existenz des Staates Israel stößt. Die Bevölkerung Israels hat ihren Willen zur Selbstbehauptung seit der Staatsgründung 1948 mehrfach unter Beweis gestellt.

Die muslimische Seite dieses Konflikts hat nahezu ausnahmslos stets unter Verdrängung und Leugnung dieses Selbstbehauptungswillens agiert. Ihr Handeln war demnach auch nie getragen von der Vorstellung eines Zusammenlebens, sondern stets getrieben von der Vernichtungsphantasie gegenüber einem Volk, das es vollständig ins Meer zu treiben galt. (…)

Der letzte dieser absoluten Vernichtungsfeldzüge fand am höchsten jüdischen Feiertag statt – und gleichzeitig im Ramadan. Die heutige Situation Jerusalems ist auch die Folge der historischen panarabischen Doktrin, keinen Frieden mit Israel zu schließen und diesen Staat nicht anzuerkennen.(…)

Die palästinensische Nationalhymne lobt die Todesbereitschaft der Fedajin, der sich Opfernden, und das Feuer der Rache. Palästina ist dort das Land des Widerstandes, „Palästina ist meine Rache“. Eine Rache also, die die Antwort auf Vertreibung nicht in der Versöhnung und im Ausgleich zu suchen bereit ist, sondern nur die Möglichkeit der vollständigen Vernichtung des Gegners als einzige Handlungsmaxime proklamiert.(…)“

Die spirituelle Katastrophe

Und auch hierin liegt die seelische Katastrophe, der spirituelle Offenbarungseid auf muslimischer Seite. All die negativen Folgen von Gewalt werden nicht als schicksalhafte Konsequenz des eigenen Verhaltens, womöglich der eigenen Fehler und der eigenen Gewaltbereitschaft wahrgenommen, sondern stets nur als Niedertracht des Gegners. Aus dieser Situation kann es also innerhalb dieser Vorstellungswelt nie einen Ausweg geben, der in der Verständigung und im Frieden mit dem Gegner zu suchen ist, sondern immer nur in dessen vollständiger Vernichtung. Der Ort für notwendige Veränderungen wird niemals in der eigenen Motivation lokalisiert, sondern immer nur in dem Ziel der absoluten Vernichtung und Vertreibung alles Jüdischen.

Die eigene deutliche militärische Unterlegenheit ist dabei kein Anlass zur Selbstbefragung und für Zweifel an den eigenen Methoden und Zielen. Aus ihr folgt nur die Schlussfolgerung, dass wenn schon kein militärischer Sieg zur Umsetzung der eigenen Vernichtungsphantasien möglich ist, dann der Gegner mit seiner ganzen Bevölkerung wenigstens das Größtmögliche an Schmerz und Leid erfahren soll, das mit den eigenen Mitteln verursacht werden kann. Dort wo die vollständige Vernichtung nicht möglich ist, soll der Gegner in ständiger Unsicherheit und Bedrohung leben und regelmäßig mit Eruptionen tödlicher Gewalt terrorisiert werden. Palästina ist in dieser Gedankenwelt nicht ein Nachbar Israels. Palästina ist das, was heute Israel ist – in seiner Gänze. Und Palästina wird dann „zu meiner Rache“, wenn es nirgendwo in Frieden und Sicherheit bewohnt werden kann.

Aus dieser nihilistischen Logik heraus feuern Muslime unter Anrufung Gottes, des Barmherzigen und Gnädigen, Raketen auf israelische Wohngebiete, Schulen und Krankenhäuser. Aus dieser Logik heraus gilt jede Jüdin und jeder Jude – für manche auch weltweit – als Kombattant. Aus dieser Logik heraus werden Raketen auf Dimona abgefeuert, dem Standort einer der beiden Atomreaktoren Israels.

Wer so handelt, dem geht es nicht um „Befreiung“, nicht um Gerechtigkeit oder Menschenrechte. Wer so handelt, will dass der Gegner vollständig untergeht. Selbst dann noch, wenn das den eigenen Untergang bedeutet. Wer so handelt, will dass der Gegner mit seiner überlegenen militärischen Stärke zurückschlägt, um die furchtbaren Folgen dieser Gewalt dann als Grund für die eigene ewige Rache zu zitieren und die historische Katastrophe der Vertreibung als permanent gegenwärtiges, sich stets erneuernd wiederholendes Trauma der eigenen muslimischen Jugend einzupflanzen. Es ist die mitleidlose Strategie, wieder und immer wieder die blutige Niederlage zu suchen, um sie zum vergifteten und Generationen vergiftenden Nährboden der eigenen Existenz zu kultivieren.

Die muslimische Verantwortung

Der Prophet Mohammed (s.a.s.) verließ seine Geburtsstadt Mekka, seine Heimat, in der er Gewalt und Verfolgung erlitt und flüchtete nach Medina. Er war ein Vertriebener. Er hat bei seiner Pilgerfahrt von Medina nach Mekka – nach Tagen der Strapazen und Entbehrungen – mit seiner Gemeinde den Zutritt zur Kaaba nicht erzwingen wollen, weil er darin die Gefahr einer gewaltsamen Eskalation und eines anhaltenden Krieges erkannte. Er schloss eine Friedensvereinbarung und kehrte noch vor den Toren Mekkas um, ohne die Pilgerreise zu beenden. Das ist die religiöse Kultur, an die sich Muslime in Zeiten der Not und Gewalt erinnern sollten. Nach vorne zu blicken, die Zukunft mit der Hoffnung auf Frieden und Aussöhnung zu gestalten, sollte das Charakteristikum muslimischen Handelns sein.

Aus all diesen Gründen kann ich mich mit den Palästinensern bei diesem Konflikt nicht solidarisch zeigen. Mein Gewissen sagt mir, dass ihr Ziel und ihr Weg und alles, was sie dabei billigend in Kauf nehmen, nicht vereinbar sind mit dem, was ich unter einer muslimischen Haltung verstehe. Ich bin davon überzeugt, dass sich zunächst das Verhalten der Palästinenser verändern muss, damit sich auch das verändert, was auf der israelischen Seite dieses Konflikts falsch ist. Diese Punkte aufzuzählen und zu kritisieren ist als Muslim aber nicht meine Aufgabe. Ein solches Verhalten würde auch kaum zu einer Veränderung beitragen. Für eine Veränderung zum Guten, zum Besseren, ist es erforderlich, dass Juden miteinander über diese Fragen diskutieren. Ich kann nur mit dem entsprechenden Beispiel auf muslimischer Seite beginnen.

Dazu gehört es eben auch, diesen Text zu schreiben und alle Beschimpfungen auszuhalten, die seiner Veröffentlichung gewiss folgen werden. Wird dieser Text etwas verändern? Vermutlich nicht. Ich hoffe nur, dass er wenigstens eine junge Muslimin, vielleicht einen jungen Muslim erreicht, die am Wochenende bei Demonstrationen an die „Katastrophe“ erinnern wollen. Gerade in diesen Tagen, in denen wieder über Fahnenverbrennungen und Angriffe auf Synagogen in Deutschland berichtet wird. Bei jeder Ausübung des Rechts der freien Meinungsäußerung mögen sie sich stets hinterfragen, mit wem sie da Seite an Seite protestieren, welche Parolen sie skandieren, ob ihr Handeln zum Frieden beiträgt oder pauschal eine ganze Glaubensgemeinschaft dämonisiert.

Und an dieser Stelle sei auch auf das unüberhörbare Schweigen aller muslimischen Verbände in Deutschland hingewiesen. Angesichts der bekannten antisemitischen Eskalationen bei vergangenen Demonstrationen können und dürfen sie nicht davon ausgehen, dass vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse in Israel die Demonstrationen am bevorstehenden Samstag friedlich und demokratisch bleiben werden. Sie haben am kommenden Freitag, anlässlich der Freitagspredigt zum Ramadanfest, die Gelegenheit, zum Frieden und zur Verständigung aufzurufen. Sie haben die Gelegenheit unmissverständlich zu unterscheiden zwischen falscher israelischer Regierungspolitik und der Existenzberechtigung Israels. Sie haben die Gelegenheit zu beweisen, dass ihre „Israelkritik“ eben nicht bloß ungeschickt getarnter Antisemitismus ist und dass sie ebenso deutlich die Gewalt verurteilen, die von Muslimen ausgeht.

Sie haben – wenn sie ihren Anspruch, Religionsgemeinschaften zu sein, beweisen wollen – die Gelegenheit und die Verantwortung darauf hinzuweisen, dass unsere jüdischen Nachbarn hier in Deutschland nicht unsere Gegner sind, nicht die Verantwortung für die Politik der israelische Regierung tragen und ausdrücklich ihr Wohlbefinden, ihre Sicherheit und ihre Glaubensstätten gemeinschaftliche Güter unserer Gesellschaft sind, zu deren Schutz gerade auch wir Muslime berufen sind. Wer diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen lässt, soll nicht glauben, dass hinterher veröffentlichte halbherzige Verurteilungen von Gewalt und Eskalation und diplomatische Solidaritätsbeteuerungen mit der jüdischen Gemeinde noch glaubhaft wirken.

Kann dieser Text den Brand löschen, der momentan in Israel lodert und droht, uns auch hier in Deutschland zu verbrennen? Natürlich nicht. Aber jedenfalls soll mit ihm deutlich werden, wo sein Verfasser mit seiner Haltung steht. Das ist das Mindeste, was jeder von uns tun kann.