„Das ist leider zu einer Identitätsfrage geworden“

Mein Interview mit dem Tagesspiegel:

Judenhass sei heute geradezu Bedingung, um als Muslim akzeptiert zu werden, sagt Murat Kayman. Der Jurist über Sprachcodes, halbgare Statements und Stigmatisierungen.

Herr Kayman, Sie haben sich sehr offen gegen die Gewalt der Hamas positioniert und Kritik an den Zuständen der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland geübt. Wie waren die Reaktionen?
Es gibt zwei Strategien. Erstens kommt der Vorwurf: Du sagst ja gar nichts zu Israel! Zweitens wird mir abgesprochen, Muslim zu sein. Kritische Stimmen, in diesem Fall ich, sollen als außenstehend markiert werden. Diese Strategien haben die Funktion, sich nicht mit dem Inhalt der Kritik auseinandersetzen zu müssen. Deshalb markiert man denjenigen, der sie anprangert, als nichtmuslimisch. So lässt sich der eigene Hass, die eigene Menschenverachtung, weiterhin als kompatibel mit der muslimischen Identität wahrnehmen.

Trifft Sie der Vorwurf, kein wahrer Muslim zu sein?
Nein. Was mich traurig macht, ist die Konsequenz, die ich für mich ziehen muss: Dass ich meinen Glauben nicht mehr kollektiv in dieser Gemeinschaft auslebe. Weil ich nicht bereit bin, diese Abgründe einfach schweigend hinzunehmen als Preis dafür, dass ich meinen Glauben in einer gemeinschaftlichen Praxis erleben darf. Das ist es mir nicht wert.

Ich finde keinen Seelenfrieden in der gemeinschaftlichen Religionspraxis, wenn ich weiß, dass sie nur unter der Bedingung des Schweigens möglich ist. Dann lebe ich meine religiöse Identität eben individuell aus, mit den Praktiken, die ich gelernt und mir angeeignet habe.

Empfehlen Sie diesen Weg auch anderen Muslimen?
Für jemanden wie mich, mit meinen inzwischen bald 50 Jahren, ist das so handhabbar. Ich sehe aber, wie schwierig es für junge Menschen sein muss. Denn in der Gemeinschaft findet man Halt und erlebt auch viel Schönes in gemeinschaftlichen Strukturen. Das ist für viele junge Leute ein immenser Zwiespalt.

Bekommen Sie diesen Zwiespalt bei anderen Muslimen mit?
Gerade junge Menschen artikulieren das mir gegenüber. Die sagen: Wenn ich im Familienkreis sitze oder in der Teestube der Moschee und höre, wie wieder jemand Hamas-Propaganda anstimmt – dann weiß ich nicht, wie ich damit umgehen soll.

Den jungen Menschen fehlt es zwar nicht an Glaubensinhalten oder Überzeugungskraft, um gegen den Hass zu argumentieren. Doch sie sehen, wie weit verbreitet der Hass ist, wie groß die Zustimmung ist. Ihnen wird Alternativlosigkeit suggeriert: Du musst dich mit der Hamas solidarisieren, du musst deren schreckliche Taten als gerechtfertigt akzeptieren. Du musst bereit sein, Juden zu hassen, um ein richtiger Muslim zu sein.

Das ist leider zu einer Identitätsfrage geworden und hat unfassbare Ausmaße angenommen. Man könnte meinen, das Muslimsein hänge nicht mehr vom rituellen Glaubensbekenntnis ab, sondern der Einstellung zum Nahostkonflikt. Das erleben junge Menschen und stehen vor der traurigen Wahl: Folge ich meinem Gewissen und halte dagegen oder schweige ich, um weiterhin Teil dieser Gemeinschaft sein zu können.

In Berlin kam es in den vergangenen Tagen mehrfach zu Ausschreitungen bei Pro-Palästina-Demonstrationen, gegen eine Synagoge wurde von unbekannten Tätern ein Molotow-Cocktail geworfen. Hat Sie die Vehemenz bei den Protesten überrascht?
Nein. Wenn man nicht die Augen verschließt vor der Hetze, die es in breiten Teilen der muslimischen Community gibt, ist klar, dass tätliche Angriffe immer im Bereich des Möglichen sind. Die Frage ist eher, wann bricht sich das Bahn? Die Pro-Palästina-Szene setzt darauf, diese Erregungsbereitschaft abzurufen, das haben wir in der Nacht gesehen, als das Krankenhaus in Gaza getroffen wurde. Von wem auch immer.

Was mich überrascht, ist die Diskrepanz zwischen dem moralischen Anspruch, wir wollen nur auf das Unrecht gegen die Palästinenser hinweisen, und der tatsächlichen Botschaft der Demonstrationen: Nämlich, dass ein friedliches Zusammenleben mit den israelischen Nachbarn nicht möglich ist. Niemand auf den Demos sagt: Gewalt ist kein Mittel, wir wollen eine friedliche Koexistenz. Das aber wäre der einzige Weg aus dem Konflikt. Nicht das Niederringen einer Seite. Wer in Deutschland in Freiheit lebt und es in Ordnung findet, dass Juden nur in Angst leben können, schadet auch der Sache Palästinas.

Als Reaktion auf die Terrorwelle der Hamas am 7. Oktober haben Sie zwei Tage später den langen Essay „Die Zukunft der Muslime in Deutschland“ veröffentlicht. Darin schreiben Sie von der „Unfähigkeit“ und dem „vollständigen Versagen“ der muslimischen Verbände. Wie bewerten Sie deren Stellungnahmen zur Terrorwelle der Hamas?
Das waren halbgare, lavierende Presseerklärungen, bei denen man es auch im dritten oder vierten Anlauf nicht schaffte, die Hamas als Terrororganisation zu bezeichnen. Ich empfinde das als sehr unaufrichtig. Und es gibt dafür leider nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder hat das Führungspersonal lediglich Angst davor, den Judenhass an der eigenen Basis zu adressieren und zu verurteilen – oder es teilt diesen Antisemitismus.

Exemplarisch will ich das Verhalten des Zentralrats der Muslime beschreiben, weil dieser als große Repräsentanz der Muslime wahrgenommen wird. Deren erste Erklärung wurde von allen zurecht als Katastrophe wahrgenommen. Dann folgte ein persönliches Statement des Vorsitzenden …

Das ist Aiman Mazyek, er steht seit 13 Jahren an der Spitze des Zentralrats.
Bei diesem Statement muss man ganz genau hinschauen, um zu begreifen, was falsch läuft. Das Erste, was Mazyek sagte, war: Die Muslime stehen am Pranger. Das Zweite: Die Kritik an uns ist nur die persönliche Abrechnung meiner Feinde. Und drittens: Was die Hamas ausübt, sei terroristisch. Das ist ein Sprachcode, der nach innen funktioniert.

Wie meinen Sie das?
Er sagt nicht, dass die Hamas Terroristen sind. Warum nicht? Entweder, weil er davon nicht überzeugt ist, oder weil er weiß, dass es an seiner Basis eine solche Überzeugung nicht gibt. Deswegen signalisiert er nach außen: Ich verurteile, was passiert ist. Nach innen signalisiert er: Diesmal ist die Hamas etwas über die Stränge geschlagen, aber das sind immer noch unsere Leute, die für eine gerechte Sache kämpfen.

Haben sich alle großen Muslimverbände so verhalten?
Die Methode ist überall gleich. Beim ein oder anderen Verband mag die innerliche Überzeugung sogar noch größer sein, weil der Antisemitismus zum Kern der eigenen Ideologie gehört. Zum Beispiel bei Millî Görüş wegen des Antisemitismus ihres Gründungsvaters Necmettin Erbakan. Oder bei dem türkisch-islamischen Verband DITIB wegen des Antisemitismus seiner politischen Kontrollkräfte in Ankara. Da befürchte ich auch in den kommenden Wochen noch ganz furchtbare Freitagspredigten.

Der Generalsekretär von Millî Görüş, Ali Mete, hat sich inzwischen doch von der Hamas distanziert. Der „Zeit“ sagte er: „Das ist ein terroristischer Anschlag, ohne Wenn und Aber“. Er selbst fände es „persönlich nicht richtig, gerade jetzt in dieser hitzigen Situation für Palästina zu demonstrieren“..
Ja, er persönlich. Aber das ist genau das Problem. Er sagt das nicht als Verbandsvertreter. Da fehlt ein klarer Aufruf an die eigene Gemeinde zum friedlichen Zusammenleben. Eine Ansage, dass es unhaltbar ist, dass Juden nur mit Angst auf die Straße gehen können, dass sich das ändern muss. Außerdem bezeichnet er die Hamas selbst nicht als Terrororganisation, wie es sein Vorgänger gemacht hatte, und der deswegen geschasst wurde. Mete sagt, es war ein „terroristischer Anschlag“. Aber das ist keine richtige Distanzierung, das ist eine Verharmlosung. Nach Innen sagt er: Die Hamas kämpft einen legitimen Kampf, aber diesmal hat sie es ein bisschen übertrieben.

Sie selbst haben sich lange im Verband DITIB engagiert, waren ab 2014 Justiziar im Bundesverband.
Ich habe mich sehr dafür engagiert, dass aus der DITIB eine deutsche Religionsgemeinschaft werden kann. Leider musste ich innerhalb der Strukturen, in denen ich hauptamtlich knapp vier Jahre tätig war, erkennen, dass ich nicht den Einfluss und die Kraft hatte, diese Gemeinschaft in eine positive Richtung zu bewegen.

Es gab intern einfach zu starke Kräfte, die das Gegenteil wollten, nämlich die Stärkung von identitären, nationalistischen Strukturen. Das haben sie seit meinem Ausscheiden noch forciert. Umso mehr sehe ich es als meine Aufgabe, diese Entwicklung jetzt zumindest öffentlich zu kritisieren. Vielleicht gelingt es mir als externe Stimme, die Aufmerksamkeit auf dieses Problem zu lenken.

Als DITIB-Funktionär haben Sie damals in der Öffentlichkeit ordentlich gegen Islamkritiker ausgeteilt. Zurecht?
Ja. Ich hatte das Gefühl, dass diese Islamkritik den jungen Muslimen keine Möglichkeit lässt, ihre Religion als friedlich und dieser Gesellschaft zugewandt zu erleben. Ich hatte immer das Gefühl, die Islamkritik hat zum Gegenstand die Behauptung: Es ist gar nicht möglich, Muslim und gleichzeitig demokratischer Bürger zu sein. Dagegen habe ich mich sehr zur Wehr gesetzt. Weil ich auch überzeugt bin, dass das nicht stimmt. Man kann beides vereinen, und das muss man all jenen entgegenhalten, die das Gegenteil behaupten – ob auf islamkritischer oder islamistisch-extremistischer Seite.

Schmerzt es Sie, dass die Terroristen der Hamas sich auf Ihren Gott, Ihren Propheten und Ihre Religion berufen?
Es ist unerträglich. Wir erleben ja spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001, dass Menschen ausdrücklich im Namen des Islam, begleitet von religiösen Gesten und Formulierungen, schlimmste Gräueltaten verüben. Das zerreißt einen, weil man die Religion anders kennengelernt hat, anders damit aufgewachsen ist.

Trotzdem teilen einige Muslime in Deutschland die Ansicht, die Hamas handle irgendwie im Namen des Islam.
Man muss nicht eine Sekunde islamische Theologie studiert oder sich mit islamischen Gelehrtenmeinungen auseinandergesetzt haben, um zu wissen, dass das Unsinn ist. Wer als Muslim aufwächst, bekomm den Islam doch nicht für Hass und Menschenverachtung gelehrt, sondern ganz andere Werte. Nämlich solche, die man in jeder Glaubensgemeinschaft seinen Kindern beibringt. Und die stehen derart im Widerspruch zur Hamas, dass klar ist: Man kann nur das eine oder das andere glauben, entweder Mitmenschlichkeit, Fürsorge, Unterstützung. Oder eben Menschenverachtung. Das zeigt einfach, dass der Hass größer ist als die religiöse Überzeugung.

In den sozialen Medien liest man gerade häufig, wie deutsche Nichtmuslime deutsche Muslime anschreiben und auffordern, sich endlich offen von der Hamas zu distanzieren. Ist dieser Druck hilfreich?
Nein. Weil es Muslime an sich stigmatisiert, und weil es nicht hilft, die Ängste, die Zurückhaltung zu überwinden. Denn wenn allein die Wahrnehmung, da sei jemand muslimisch, mit der Unterstellung einhergeht, der sei auch Antisemit, dann ist die Reaktion häufig eben nicht: Ich werde jetzt lauter in meiner Gemeinschaft. Sondern eher: Wenn ich sowieso in Mithaft genommen werde, dann schweige ich erst recht. Dazu kommt ja, dass wir als nichtmuslimische Mehrheitsgesellschaft ja auch nicht aufrichtig sind.

Weshalb?
Wir schimpfen zwar über die Jugendlichen in Neukölln, die Süßigkeiten verteilen, weil sie sich über tote Juden freuen. Aber wir leben seit Jahren keine wirkliche Erinnerungskultur im Hinblick auf die deutsche Geschichte, die über gedankliche Trauerfeiern und Friedhofsbesuche hinausgeht.

Wenn wir ehrlich sind, haben wir keine Kultur des Erinnerns, sondern eine Kultur des Verdrängens in unserem Land. Und damit meine ich nicht nur die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, wo niemand etwas gewusst haben wollte. Sondern auch aktuell die Situation. Wir regen uns über Antisemitismus auf, wenn der Antisemit Hassan heißt, aber wenn er Hubert oder Heinrich heißt, ist es den meisten egal. Ich erinnere aus meiner eigenen Jugend in den 1980er Jahren, dass Karrieren sehr schnell ein Ende gefunden haben, wenn man Antisemitismus öffentlich artikuliert hat. Über dieses Tabu sind wir längst hinweg. Heute beschert das Wahlerfolge.

(Das Interview wurde am 19.10.23 um zwei Fragen ergänzt. Die eine bezieht sich auf die Ausschreitungen bei Demonstrationen, die andere auf die in der Zwischenzeit erfolgte Distanzierung von Millî-Görüş-Generalsekretär Ali Mete von der Hamas.)