Wenn sich nichts ändert, wird nichts so bleiben wie es ist

Mit dem letzten Blogbeitrag dürfte deutlich geworden sein, dass der Verfasser dieser Zeilen die Krisenmanagementstrategie „Abwarten und hoffen, dass nichts passiert“ nicht als angemessene und sachdienliche Antwort auf die aktuellen Fragen hält, mit denen die größte islamische Religionsgemeinschaft in Deutschland jetzt konfrontiert ist.

Das ist nicht nur Ausdruck einer persönlichen Haltung. Vielmehr soll dadurch erkennbar und nachvollziehbar werden, dass keiner der durch die Nachrichtenlage bis ins Mark ihres Selbstverständnisses getroffenen DITIB Landesverbände mit der gegenwärtigen Situation zufrieden sein kann. Vorwürfe und Ereignisse, die sich außerhalb der Kompetenz- und Einflusssphäre der ehrenamtlich tätigen Gemeinschaftsvertreter ereignet haben, sind nun zu einem Stigma geworden, welches wohl über Jahre hinweg das Ansehen und die Glaubwürdigkeit aller Landesverbände und ihrer Moscheegemeinden – bis in das Berufs- und Privatleben jedes einzelnen Mitglieds hinein – beeinträchtigen wird.

Die Errungenschaften jahrelanger aufopferungsvoller Arbeit nun unter dem Eindruck der aktuellen Nachrichtenlage zerfallen zu sehen und damit einhergehend auch das Schwinden persönlichen Vertrauens mitzuerleben, dürfte für die Motivation vieler sich ehrenamtlich für religiöse Dienste einsetzender Menschen verheerend wirken. All diese Menschen verfolgen die aktuellen Ereignisse auch nur aus den Medien und verfügen über keine weiteren Erkenntnisse oder Perspektiven. Dieser Umstand, über Wochen hinweg in Unwägbarkeit und Ungewissheit allein gelassen zu werden, kann im Angesicht gravierendster Vorwürfe nicht mehr mit Anspruch auf Ernsthaftigkeit das Merkmal „verantwortungsvolle Verbandsführung“ für sich reklamieren.

Das geduldige Ringen der DITIB Jugendverbände um gesellschaftliches Vertrauen, die kraftvollen Anstrengungen der DITIB Frauenverbände um einen gleichberechtigten Platz in der Gemeindeführung und in der Gemeindevertretung auf Landes- und Bundesebene, die vielen Engagierten in der Moschee-Flüchtlingshilfe, die Landesverbände mit ihren verfassungsrechtlichen Ansprüchen und Verhandlungen, all diese Jungen und Alten, all diese Frauen und Männer haben es nicht verdient, mitzuerleben, wie ihr Einsatz für die Belange der Muslime in ihren Gemeinden und in ganz Deutschland nun durch Inkompetenz, Kurzsichtigkeit, Trägheit und Gleichgültigkeit zerschlagen wird. Dies gilt übrigens nicht nur für DITIB Gemeinden. Denn Diyanet Imame sind auch in vielen ZMD-Gemeinden und mittlerweile in knapp einem Drittel aller IGMG-Gemeinden tätig, so dass das Problem, das uns gegenwärtig bewegt, nicht nur ein singuläres Verbandsproblem darstellt, sondern die gesamte Struktur der islamischen Selbstorganisation betrifft.

An dieser Stelle wird es uns deshalb auch nicht weiterhelfen, auf die Verfehlungen Einzelner abzustellen. Sofern konkrete Vorwürfe sich erhärten sollten, wird es auch dort individuelle Konsequenzen geben müssen. Es geht aber darüber hinaus vielmehr um die Fehleranfälligkeit eines Systems, eines strukturellen Aufbaus der islamischen Selbstorganisation, über die wir intensiv nachdenken müssen.

Es geht dabei auch nicht um billigen antitürkischen Populismus, der sich viel zu häufig das knappe Gewand des aufgeklärten westeuropäischen Islamkritikers überwirft und damit kaum verschleiern kann, dass die leichtfertig hingeworfenen Unabhängigkeitsforderungen im Grunde nur die türkenfeindlichen Reflexe innerhalb der Gesellschaft bedienen. Es geht auch nicht um die antitürkische Klientelpolitik gesellschaftlicher Gruppen, die im Brustton des angekommenen Migranten immer wieder reklamieren, man dürfe Konflikte aus der Türkei nicht nach Deutschland importieren, die aber in Wirklichkeit genau davon leben, in ihrer politischen Arbeit praktisch gar nichts anderes praktizieren und die bislang nur mit lautem Schweigen aufgefallen sind, wenn die von ihnen angesprochenen Zielgruppen Anschläge auf Moscheegemeinden verüben, die sie zuvor mit ihrer hetzerischen Demagogie mittelbar als legitime Ziele markiert haben. Die Prediger einer solchen Heuchelei sind aktuell die schlechtesten Ratgeber.

Es geht hier vielmehr darum, einen selbstkritischen Blick auf die Ereignisse der letzten Monate und die eigenen innerislamischen Strukturen zu werfen. Eine inhaltliche wie formelle Bindung an das Religionspräsidium in der Türkei war stets das Qualitätsmerkmal der religiösen Arbeit der DITIB und ein Umstand, der nachhaltig durch unsere verfassungsrechtliche Ordnung gedeckt und garantiert wurde. Mit dieser Überzeugung und diesem Selbstverständnis wurde diese Bindung – gerade auch auf diesem Blog – und jeden Tag in jeder Moscheegemeinde vor Ort aufrichtig empfunden, gelebt und im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens aller Menschen hier in Deutschland gepflegt. Das und nichts anderes war die Realität. Und wäre diese Bindung auch stets und ausschließlich im Sinne der Religionspflege genutzt worden, würde auch heute noch der unveränderten Aufrechterhaltung und Verteidigung dieser Struktur nichts im Wege stehen.

Wenn heute aber gerade diese Bindung Gegenstand der Diskussion und unisono Ziel von Veränderungsdruck ist, so liegen die Gründe hierfür nicht in der zweifellos in unserer Gesellschaft tief verankerten antitürkischen und islamfeindlichen Stimmung. So ist die gegenwärtige Diskussion auch nicht das Ergebnis verschwörerischer Anfeindungen gegenüber einer erstarkenden Türkei oder Ausdruck von Okkupationsbegierden einer auf Assimilation ausgerichteten Integrationspolitik. All das wird in innertürkischen und innermuslimischen Diskussionen ja im Angesicht der gegenwärtigen Debatten immer und immer wieder ins Feld geführt. Die Realität ist indes viel schmerzhafter.

Wenn heute die verfassungsrechtlich eigentlich unbedenkliche inhaltliche und formelle Bindung an die Diyanet kritisiert und angegriffen wird, ist dies einzig und allein das Resultat eigenen Fehlverhaltens und eigener Uneinsichtigkeit. Eine Bindung, die verfassungsrechtlich nur deshalb garantiert wird, weil sie der Umsetzung, also der praktisch gelebten Religionsfreiheit dient, darf zu keinem anderen Zweck missbraucht werden. Je stärker diese Bindung politisiert wird, zu politischen Zwecken missbraucht wird, umso stärker wird die Garantiefunktion der Religionsfreiheit geschwächt. Am Ende steht sie vollends in Zweifel weil der religiöse Charakter dieser Bindung bis zur Unkenntlichkeit durch Fremdinteressen überlagert wird.

Deshalb geht es auch bei den aktuellen Vorwürfen vorrangig nicht darum, persönlich zu identifizieren, wer sich falsch verhalten hat. Das mag allenfalls einem kurzfristigen Ahndungsinteresse genügen. Es geht vielmehr um die Frage, wo die strukturelle Gestalt der islamischen Selbstorganisation versagt hat, um genau an dieser Stelle solche Veränderungen vorzunehmen, dass sich die Fehler nicht wiederholen und eine stärkere islamische Struktur entstehen kann.

Für die Fehleranfälligkeit gibt es insbesondere zwei Gründe. Die gegenwärtige strukturelle Gestalt der DITIB war – trotz intensiver Bemühungen und wiederholten Hinweisen – nicht in der Lage zu erkennen und umzusetzen, was für ihre Zielgruppe an religiösen Diensten erforderlich ist. Denn ihre Zielgruppe hat sich gewandelt. Sie ist nicht mehr geprägt von Gastarbeitern, die bald in ihre Heimat zurückkehren und vorübergehend auf religiöse Dienste angewiesen sind. Ihre Zielgruppe ist heute viel heterogener, nicht mehr monoethnisch und einsprachig. Sie erstreckt sich über mehrere Generationen, Herkunftsländer, Ethnien, Kulturen, denen allerdings gemeinsam ist, dass Deutschland immer mehr zu ihrer Heimat wird und die deutsche Sprache immer mehr zum Instrument der Religionsvermittlung. Dies alles mag erkannt worden sein, jedoch fehlt es an einer schnellen und flexiblen Antwort auf diese Herausforderungen.

Der zweite Grund liegt in der Trägheit, die eine behördliche Organisation von Religion mit sich bringt. In ihr hat man sich viel zu lange und in letzter Zeit viel zu intensiv darauf ausgeruht, dass religiöse Bindung über beamtenrechtliche oder personalrechtliche Hierarchien funktioniert. Religiöse Autorität kann aber nicht durch arbeitsrechtliche Weisungsbefugnis ersetzt werden. Dort wo das passiert, kommt das Gespür für die religiöse Wahrhaftigkeit getroffener Entscheidungen abhanden und tritt an die Stelle der Suche nach religiöser Wahrheit der Mechanismus von beamtenrechtlichen Rangverhältnissen und Beförderungsaussichten.

Um es konkreter zu formulieren: Wenn bei der Entscheidungsfindung die Interessen oder Erwartungen des Dienstherren in der Türkei mit dem Wohl einer Religionsgemeinschaft hier in Deutschland kollidieren, kann in einem solchen System der faktischen Weisungsgebundenheit niemals das Wohl oder die religiöse Wahrheit einer Religionsgemeinschaft obsiegen. Das ist kein Vorwurf. Es ist eine simple Feststellung, die den Selbsterhaltungstrieb des Menschen und die Mechanismen beamtenrechtlicher Strukturen berücksichtigt.

Diese Mechanismen sind so wirkmächtig, dass sie letztlich auch der Entwicklung religiöser Inhalte im Wege stehen. Was DITIB aber dringender als je zuvor braucht, ist eine inhaltliche, eine religiöse Bindung an die Diyanet. Diese Bindung ist in der Vergangenheit stets und immer wieder beschworen worden. Faktisch – so muss man im Rückblick feststellen – hatte sie keine ausreichende Wirkung. Auf die Bedürfnisse und Fragen der Muslime in Deutschland konnte die Diyanet und deshalb letztlich auch die DITIB außerhalb ritueller Religionspraxis bislang keine erschöpfenden und befriedigenden Antworten liefern. Ausarbeitungen zu den konkreten Bedürfnissen einer in Deutschland lebenden muslimischen Community, die Antwort auf ganz konkrete Fragestellungen zum Leben in Deutschland muss auch die Geschichte, die Erfahrungen, die Kultur, die Gepflogenheiten dieses Landes berücksichtigen und eine islamisch legitime Antwort auf diese konkrete Konstellation formulieren können. Dieser Mühe ist man bislang aus dem Weg gegangen. Es ist aber ein Trugschluss zu glauben, man könne mit ein und demselben geistlichen Personal – egal wie qualifiziert es auch sein mag – gleichzeitig jeweils passende Antworten zu den konkreten Fragestellungen von Muslimen in Deutschland, in der Türkei, aber auch in Afrika oder in Zentralasien liefern.

Das geistige Potential ist in der Diyanet vorhanden, ist an den Universitäten in der Türkei vorhanden. Es müssen nun Wege gefunden werden, wie man dieses Potential mit den zaghaft neu entstehenden Kompetenzen im Bereich der islamischen Theologie hier in Deutschland zusammenbringt, damit das Islamverständnis der Diyanet und der nahe Blick auf die Lebensverhältnisse und Herausforderungen in Deutschland miteinander verwoben werden können.

Denn dass die DITIB Gemeinden auf das Islamverständnis der Diyanet nicht verzichten werden, ist sicher. All die Schreckensszenarien, die hier in Deutschland mit Blick auf die Diyanet entworfen werden, sind abwegig und gehen an den tatsächlichen Bedürfnissen der Gemeinden vorbei. Der Islam ist eben nicht die vielfach polemisierte „simple Religion mit einfachen Geboten und Verboten“. Die Wissenstradition, die Gelehrtentradition, die Methodenlehre, die Erschließung religiöser Quellen, die Anwendungs- und Auslegungstraditionen, selbst die konkrete rituelle Praxis weisen von Land zu Land teilweise erhebliche Unterschiede auf. Das mag nicht die Grundlehre, die Essenz des Glaubensbekenntnisses betreffen. Allerdings sind eben jene Instrumente der Religionsaneignung für die praktische Gestaltung des Alltages stark von den ursprünglichen Wissens- und Vermittlungstraditionen geprägt. Und diese hanefitisch-maturidische Prägung, wie sie dem Verständnis der Diyanet eigen ist, hat sich in der praktischen Realität der Migrationsgeschichte der Muslime in Europa als jene erwiesen, die im Vergleich zu der Situation in den europäischen Nachbarländern in Deutschland eine friedliche, Ambiguität als Normalität verstehende, vielfältige, heterogene und damit einer pluralistischen Gesellschaftsordnung nahestehende und ganz natürlich integrierbare muslimische Community mitgeprägt, ja wenn nicht sogar ursprünglich hervorgebracht hat.

Deshalb kann man nicht erwarten, den so geprägten Gemeinden nun einfach Absolventen der universitären Studiengänge in die Gebetsnische zu stellen, ohne dass sie mit diesem Islamverständnis der Diyanet vertraut sind. Es geht also nicht nur darum, wer den Imam bezahlt, sondern ob Imam und Gemeinde auch die selbe religiöse Sprache sprechen.

Hier muss es eine viel intensivere Zusammenarbeit zwischen der Diyanet und den Studiengängen in Deutschland geben. Die religiösen Potentiale der Diyanet müssen auch für die Studierenden in Deutschland erschlossen werden. Diese Nähe wird es wiederum der Diyanet erleichtern, ihre vielfältigen Kompetenzen so weiter zu entwickeln und nutzbar zu machen, dass sie den Bedürfnissen der in Deutschland lebenden Muslime viel besser gerecht werden kann.

Denn die Moscheegemeinden können nicht als nur türkische, religiöse Refugien in einer fremden Umgebung begriffen werden. Das ist insbesondere auch dem islamischen Selbstverständnis fremd, das nie der Perspektive einer Diaspora gefolgt ist, sondern stets die Lebenswirklichkeit vor Ort als Rahmen der muslimischen Praxis begriffen und ausgefüllt hat. Wir brauchen ein Diyanet-Potential, das Religion nicht als moralische Unterstützung innerhalb einer Wagenburg versteht, sondern vielmehr und grundlegender als eine religiöse Quelle, die im Interesse und zum Wohle aller innerhalb einer multireligiösen Gesellschaft sprudelt.

Das wird nicht aus der Ferne gehen. Deshalb braucht es eine intensivere spirituelle Anbindung, eine inhaltlich anspruchsvollere, engere Zusammenarbeit zwischen der DITIB, der Diyanet und weiteren Akteuren, um gerade den wertvollen Beitrag der Diyanet nicht zunehmend im Bereich kultureller Religionsfolklore verkümmern zu lassen, sondern dem Ideal des Islam, Gutes und Gedeihliches für alle zu fördern, auch eine tatsächliche und realistische Grundlage zu geben.

Grundvoraussetzung dafür ist, dass sich diese Zusammenarbeit, diese noch engere und stärkere Bindung, einzig und allein auf die Religion konzentriert. DITIB ist nun eine gestandene islamische Religionsgemeinschaft in ihren 30ern und damit erwachsen, reif und fähig, die eigenen Geschicke im Bereich der Selbstverwaltung und Gemeindeführung eigenverantwortlich zu gestalten. In den Moscheegemeinden wachsen Generationen nach, die ihre Vorfahren an Bildung, gesellschaftlicher Kenntnis und globalisiertem Wissenshorizont übertreffen. Wenn es ihnen gelingt, die Leistungsbereitschaft und den selbstlosen Einsatz der Gründergeneration mit diesen Kompetenzen zu verbinden, steht dem praktischen Gelingen der Moschee- und Gemeindearbeit nichts im Weg.

Die Diyanet muss nun in enger Zusammenarbeit mit DITIB religiöse Inhalte schaffen und anbieten, die dem Anspruch dieser Gemeinden genügt, ihren Erwartungen entspricht und Tradition mit Gegenwart verbindet. Das ist eine Mammutaufgabe, die nur dann gelingen kann, wenn sich alle auf die Religion – und nur die Religion – fokussieren. Dafür wird die Diyanet dringender gebraucht als je zuvor.