Eine Abrechnung

Im öffentlichen Diskurs über den Islam gehört es seit jeher zum schlechten guten Ton, sich nicht mit differenzierten Betrachtungen aufzuhalten. In weiten Teilen des öffentlichen und gerade auch medialen Resonanzraums gibt es nicht einmal mehr ansatzweise so etwas wie den Versuch einer Diskussion unter Berücksichtigung verschiedener Perspektiven. Was jahrelang als „Islamkritik“ praktiziert wurde, driftet nun immer mehr in die Kategorie der Abrechnung.

 

Der Anspruch nach einer tieferen Erkenntnis über den Betrachtungsgegenstand oder der Wunsch nach möglichst ausgiebiger Beleuchtung tunlichst aller Facetten einer Fragestellung spielt praktisch keine Rolle mehr. Wobei durchaus fraglich ist, ob es im Hinblick auf den Islam jemals einen solchen Anspruch in der öffentlichen Debatte gab.

 

Fest steht jedenfalls, dass die meisten Akteure in der Debatte über den Islam zu dem Schluss gekommen sein müssen, man habe genug gemessen und gewogen. Jetzt kommt der Befund. Das Verdikt. Die Abrechnung. Der islamkritische Judgement Day. Wobei wir „islamkritisch“ mittlerweile mit „verbandskritisch“ ersetzen müssen.

Dieser Rundumschlag muss zerschmettern, was an etablierten Verbänden existiert. Denn längst sind die selbstermächtigten muslimischen Avantgardisten darin übereingekommen, dass das Problem nicht mehr „der Islam“ ist – einige Fossilien der islamkritischen Frühgeschichte sind noch auf diesem Holzweg.

Die gegenwärtig nach vorne drängenden Akteure haben aber schon erkannt, dass es eine erfolgversprechendere Attitüde gibt, als allen Muslimen eine dogmatische Prägung durch den Islam zu attestieren und gleichzeitig den Islam kategorisch als das Übel zu brandmarken.

Wie soll man ein so beschriebenes Problem denn auch lösen, ohne alle Muslime des Landes zu verweisen? Also wechselt der Fokus auf eine andere Diagnose. Der Islam hat jetzt plötzlich das Potential zur Moderne. Dieses Potential wird aber unter Verschluss gehalten, gehemmt, unterdrückt. Durch wen oder was? Natürlich durch die Verbände.

 

Just in dem Moment, in dem die etablierten Selbstorganisationen der Muslime zaghaft ihre verfassungsrechtliche Rolle als Religionsgemeinschaften einnehmen, wird ihnen die Eignung, Tauglichkeit und Legitimation abgesprochen. Hierzu werden ihnen allerlei Eigenschaften zugewiesen, mit denen sie aus der öffentlichen Debatte herausdrängt werden sollen. Die Verbände werden etikettiert als rückständig, frauenfeindlich, reaktionär, fremdbestimmt, anachronistisch, radikal, fundamentalistisch, veraltet, unbeweglich, ängstlich, unprofessionell, illiberal, rückwärtsgewandt, atavistisch, repressiv, diktatorisch, unaufgeklärt. In einem Wort zusammengefasst: konservativ.

 

Mittlerweile braucht es im Zusammenhang mit dem Islam keiner schlüssigen Herleitung eines Ergebnisses, keiner nachvollziehbaren Begründung einer Behauptung mehr. Es reicht schon, wenn das Gegenteil der eigenen These als Praxis oder Haltung der muslimischen Verbände beschrieben wird. Sämtliche negativen Zuschreibungen, die trefflich über Jahre in der Empörung des „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen“ kultiviert wurden, werden nun auf die muslimischen Religionsgemeinschaften bezogen. Das ist sehr hilfreich, weil damit alle destruktiven Konsequenzen nicht mehr abstrakt die schwer fassbare Größe „Islam“, sondern sehr greifbare, sehr konkrete Organisationsstrukturen und Personen treffen.

 

Jahrelang wurde über den Islam in einer personalisierenden Sprache diskutiert. Der Islam sei dieses und jenes, schreibe vor, handle, predige, diktiere, strafe, erlaube. Man hatte zeitweilig das Gefühl, der Islam warte vor den Türen der Talkshowstudios und man müsse ihn nur hineinbitten, damit er endlich mal Antwort auf die drängendsten Fragen geben kann. Diese Abstraktionshürde muss niemand mehr überspringen.

Heute bezieht sich die allgegenwärtige Abrechnung ganz konkret auf natürliche, wenigstens aber juristische Personen. Endlich werden Probleme lösbar. So erfolglos die Forderung, der Islam müsse sich reformieren, in Ermanglung eines Handlungssubjekts anmutet, so realisierbar erscheint die Forderung nach einer Reform von Verbänden. Da hat man endlich ganz konkret Personen, denen man alles zutraut – nur nichts Gutes. Um dieser Forderung selbst völlig unbegründet noch Allgemeingültigkeit und Berechtigung zu verleihen, genügt die bloße Behauptung der Illegitimität des Verbandshandelns, ja gar der Verbandsexistenz.

 

Die gleiche Methodik taugt auch zur Adelung vermeintlich progressiver Positionen. Die Behauptung des Humanistischen, des Liberalen, des Modernen, des Verfassungsmäßigen, des Repräsentativen reicht vollkommen aus. Einer Begründung oder gar Konsistenz in der Haltung bedarf es nicht.

Man sagt oder schreibt bestimmt Gescheites, weil man aus einer „Gelehrtenfamilie“ kommt. Man vertritt gewiss die Mehrheit, weil sie – gottlob! – schweigt. Man ist natürlich liberal, weil man sich so nennt. Man reklamiert das Recht für sich, weil niemand widerspricht. Man vertritt mutige Thesen, weil niemand kritisch hinterfragt. Man ist in guter Gesellschaft, weil niemand die Gesellschaft tatsächlich kennt.

 

Diese Ignoranz, diese intellektuelle Duldungsstarre wird gerade dann besonders erkennbar, wenn die sprachliche Verirrung, die dem Begriff der Abrechnung in diesem Kontext innewohnt, näher betrachtet wird. Die Abrechnung mit den muslimischen Verbänden soll ja im Geiste der Abrechnenden eine empörte Intervention, ein entlarvender Aufschrei sein und die Anprangerung viel zu lang geduldeten Unrechts verkörpern.

 

In Wirklichkeit entblößt sie sprachlich das, was die Abrechnung präzise definiert eigentlich ist: eine Rache, eine Heimzahlung, eine Bestrafung, eine Vergeltung, eine Maßregelung, eine Repressalie.

 

Damit ist mehr über die Abrechnenden ausgesagt, als über die, denen hier die Quittung erteilt wird. Viel zu oft sind es persönliche Brüche in der Biographie, wahnhafte Überhöhungen der eigenen Bedeutung als vermeintlich langersehnte Heilsfigur oder schlicht Profitgier jener, die sich selbst als ewig verkannte Genies wahrnehmen, welche die leidenschaftlichsten Revanchisten antreibt.

 

Was dabei geflissentlich übersehen wird: Zielscheibe dieser Abrechnung sind die Organisationsstrukturen, die Muslime hierzulande gerade als Ausdruck ihrer Heimisch-Werdung hervorgebracht haben. Trotz aller Zuweisungen von Heteronomie und trotz aller Widersprüche und Mängel, die es natürlich auch in der muslimischen Verbandslandschaft gibt, muss gewürdigt werden, dass es eben solche Strukturen sind, welche die Muslime selbst hervorgebracht haben.

In ihnen versammeln sie sich, in ihnen übernehmen sie Verantwortung und mit ihnen und durch sie haben sie teil an den religionsverfassungsrechtlich definierten und gesellschaftlich manifesten Aufgaben als Säulen der Zivilgesellschaft. Sie sind damit Ausdruck dessen, was allseits als die Forderung nach einem „Deutschen Islam“ artikuliert wird. Deutscher, als ihre Religionsgemeinschaften nach Vereinsrecht zu organisieren, können Muslime gar nicht mehr werden.

 

In dem ganzen hysterisch erhitzten Abrechnungstumult geht überdies verloren, was bei einer nüchternen Gleichung viel deutlicher hervortreten würde – nämlich das eigentliche Wesen der Dinge:

 

Unwissenheit + Klischees * Rollencasting – kritische Fragen – Differenzierung = Islamdebatte

 

Substanz – Wissenschaft – Islam / Applaus + Messias-Egomanie * Sodbrennen = Reformtheologie

 

Schweigende Mehrheit – 99,9 % der Muslime / Berliner Luft + KAS-Mittagessen = MFD

 

e.V.-Patchwork + Zampano + Islamgesetz + Büttenrede – Prinzipien = guter muslimischer Vertreter

 

Und, um auch ein bisschen selbstkritisch zu sein:

Basis + Religionsgemeinschaft – öffentliche Stimme / Einheit * Lethargie = muslimische Verbände

 

Anmerkung:

Auszug aus dem Operetten-Lied „Berliner Luft“ von Paul Lincke: „Berlin! Hör’ ich den Namen bloß / da muß vergnügt ich lachen! / Wie kann man da für wenig Moos / den dicken Wilhelm machen!“