Ent-fremden

Mai 1971: Ein Toter, 27 Verletzte bei einem Bombenanschlag auf eine Polizeistation in Belfast.

März 1972: 7 Tote, 148 Verletzte bei einem Autobombenanschlag auf Räume der Tageszeitung „The News Letter“ in Belfast.

Juli 1972: 9 Tote, 130 Verletzte bei über 20 Bombenanschlägen binnen 80 Minuten in Belfast.

März 1973: Ein Toter, über 200 Verletzte bei zwei Autobombenanschlägen in London.

Mai 1973: 5 Tote bei einem Bombenanschlag vor einem Hotel in Omagh, County Tyrone.

Juni 1973: 6 Tote, 33 Verletzte bei einem Autobombenanschlag in Coleraine, County Londonderry.

Februar 1974: 12 Tote, 38 Verletzte bei einem Bombenanschlag auf einen Reisebus, in dem britische Soldaten und deren Familien zu einem Ausflug unterwegs waren. Unter den Toten waren eine Frau und zwei Kinder.

Juni 1974: 11 Verletzte bei einem Bombenanschlag auf das britische Parlament im Palace of Westminster in London.

Juli 1974: Eine Tote, 41 Verletzte bei einem Bombenanschlag auf den Tower of London.

Oktober 1974: 5 Tote, 65 Verletzte bei einem Bombenanschlag auf eine Gaststätte in Guildford.

November 1974: 21 Tote, 182 Verletzte bei Bombenanschlägen in Birmingham.

August 1975: 33 Verletzte bei einem Bombenanschlag in einer Gaststätte in Caterham.

September 1975: 2 Tote, 63 Verletzte bei einem Bombenanschlag in der Lobby des Hilton-Hotels in London.

Januar 1976: 10 Tote, ein Verletzter bei einem Anschlag in Kingsmill, County Armagh. Bei dem Anschlag werden 11 protestantische Arbeiter auf dem Nachhauseweg aus einem Transportfahrzeug gezerrt und niedergeschossen.

Juli 1976: 2 Tote, 2 Verletzte bei einem Bombenanschlag in Sandyford. Bei den Toten handelt es sich um den britischen Botschafter Christopher Ewart-Biggs und eine Privatsekretärin.

Februar 1978: 12 Tote, 30 Verletzte bei einem Bombenanschlag auf ein Restaurant in Gransha, County Down. Bei den Toten handelt es sich um 12 protestantische Zivilisten.

August 1979: 4 Tote, 5 Verletzte bei einem Bombenanschlag in Mullaghmore. Einer der Toten ist Louis Mountbatten, 1. Earl Mountbatten of Burma. Er war der Onkel von Prinz Philip, dem Ehemann der britischen Königin Elisabeth II. Bei dem Anschlag starb auch sein 14 Jahre alter Enkel Nicholas Knatchbull.

August 1979: 19 Tote, 7 Verletzte bei Bombenanschlägen in Warrenpoint, County Down.

Juli 1982: 11 Tote, 22 Verletzte bei zwei Bombenanschlägen während einer Militärparade im Hyde Park und Regent’s Park in London. Unter den Opfern waren Musiker einer Militärkapelle und Touristen.

Dezember 1983: 6 Tote, 90 Verletzte bei einem Bombenanschlag auf das Kaufhaus Harrods in London.

Oktober 1984: 5 Tote, 30 Verletzte bei einem Bombenanschlag auf das Grand Hotel in Brighton.

März 1987: 31 Verletzte bei einem Autobombenanschlag auf das britische Joint Headquarters Rheindahlen in Mönchengladbach. Unter den Verletzten sind 27 deutsche Soldaten.

April 1987: 2 Tote, 6 Verletzte bei einem Autobombenanschlag in Killean, County Armagh. Bei den Toten handelt es sich um Lordrichter Maurice Gibson und seine Ehefrau. Gibson war zum Zeitpunkt seines Todes zweithöchster Richter in Nordirland.

November 1987: 12 Tote, 63 Verletzte bei einem Bombenanschlag während einer Gedenkveranstaltung zur Ehrung gefallener Soldaten in Enniskillen, County Fermanagh. Unter den Toten sind 10 Zivilisten.

Juni 1988: 6 Tote, 11 Verletzte bei einem Bombenanschlag nach einem Charity-Lauf in Lisburn.

August 1988: 8 Tote, 28 Verletzte bei einem Bombenanschlag auf einen Militärbus in Ballygawley, County Tyrone.

September 1989: 11 Tote, 21 Verletzte bei einem Bombenanschlag auf die Militärmusikschule der Royal Marines in Deal.

Juni 1989: Ein Toter, 20 Verletzte bei einem Bombenanschlag auf den Carlton Club in London.

Oktober 1990: 6 Tote bei einem Autobombenanschlag in Coshquin, County Londonderry. Bei dem Anschlag wurde ein der Kollaboration mit den Briten beschuldigter Mann mittels Geiselnahme seiner Familie dazu gezwungen, eine Autobombe in einen Kontrollposten des britischen Militärs zu steuern. Bei dem Anschlag kamen der Fahrer und 5 britische Soldaten ums Leben.

Februar 1991: 4 Verletzte bei einem Mörserangriff auf den Sitz des Premierministers von Großbritannien, Downing Street No. 10, in London.

Mai 1991: 3 Tote, 14 Verletzte bei einem Lkw-Bombenanschlag mit über 1 Tonne Sprengstoff in Glenanne, County Armagh

Januar 1992: 8 Tote, 6 Verletzte bei einem Bombenanschlag auf ein Fahrzeug von 8 protestantischen Arbeitern, die auf dem Weg zu Reparaturarbeiten in einer britischen Militärbasis waren.

Februar 1992: 29 Verletzte bei einem Bombenanschlag auf den Bahnhof London Bridge in London.

April 1992: 3 Tote, 91 Verletzte bei einem Autobombenanschlag in London. Der Anschlag zielte auf den Finanzdistrikt der Stadt. Dabei entstand ein Sachschaden von über 700 Millionen Pfund Sterling.

April 1993: 1 Toter, 44 Verletzte bei einem Autobombenanschlag in London. Erneut war der Finanzdistrikt der Stadt Ziel des Anschlages. Es entstand ein Sachschaden von über 300 Millionen Pfund Sterling.

Oktober 1993: 10 Tote, 57 Verletzte bei einem Bombenanschlag auf die Führung der protestantischen Ulster Defence Association.

Februar 1996: 2 Tote, über 100 Verletzte bei einem Bombenanschlag in der Canary Wharf in London. Bei dem Anschlag entstand zusätzlich ein Sachschaden von über 100 Millionen Pfund Sterling.

Juni 1996: 212 Verletzte bei einem Bombenanschlag in Manchester. 1,5 Tonnen Sprengstoff, versteckt in einem Kleinlaster, verursachte die größte Bombenexplosion auf der britischen Insel seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Dabei wurden 12 Gebäude zerstört. Es entstand ein Sachschaden von über 600 Millionen Pfund Sterling.

 

Diese Aufzählung ist unvollständig. In etwa 25 Jahren, von den 1970er Jahren bis in die Mitte der 1990er Jahre, starben über 1.500 Menschen, darunter über 600 Zivilisten, durch den Terror der Provisional Irish Republican Army (IRA). Über 12.000 Zivilisten erlitten zum Teil schwerste Verletzungen.

Wie aus der obigen kursorischen Auflistung ersichtlich, zielte der Terror auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens, auf militärische wie private Einrichtungen, auf einfache Bürger wie bekannte und hochrangige Persönlichkeiten der britischen Gesellschaft und Politik. Dieser Terror machte vor nichts und niemandem halt. Der Terror zielte auf politische und auch konfessionelle Unterschiede.

Gleichwohl wurden nicht alle Katholiken oder alle Iren für den Terror verantwortlich gemacht. Allen Betroffenen – auf britischer aber auch auf irischer Seite – war bewusst, dass es sich bei der IRA um eine extremistische Gruppierung handelt, die – möge sie noch so zahlenmäßig stark sein und entsetzliche Anschläge verüben – nicht die Haltung aller Katholiken oder aller Iren widerspiegelt.

Grund für diese differenzierte Betrachtung ist sicher auch die Tatsache, dass es sich bei der irischen Unabhängigkeitsbewegung mit all ihren historischen Verläufen und allen aus ihr entstandenen Gruppierungen um ein gesellschaftlich gut bekanntes Phänomen handelte, dass die vorhandenen Konflikte also nichts Fremdes waren.

Sowohl Briten, wie auch Iren waren die historischen Entwicklungen, die inhaltlichen Positionen, die Streitpunkte und ideologischen Argumentationsmuster bekannt. Selbst die Tatsache, dass der Konflikt auch durch eine konfessionelle Dimension geprägt war, hat nicht dazu geführt, dass der Katholizismus oder alle Katholiken für die Gewalt der IRA in Verantwortung genommen wurden.

Dazu war der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung zu gut bekannt, dass eben nicht alle Iren oder alle Katholiken die Gewaltbereitschaft der IRA teilten. Das Wissen um die konkreten Konfliktlinien und um die nicht existente Repräsentativität gewaltlegitimierender Positionen haben eine differenzierte und realistische Bewertung der Ereignisse erleichtert. Noch einfacher formuliert: allen war bekannt, dass Katholiken und Iren in großer Mehrheit die Gewalt der IRA ablehnen.

In Deutschland haben etwa 90 % der nichtmuslimischen Menschen noch nie eine deutsche Moschee von innen gesehen. Bis heute fällt kaum auf, wenn muslimische Geistliche falsch als „Iman“ bezeichnet werden, obwohl die korrekte Formulierung „Imam“ lautet. Trotz 15 Jahren intensivster „Islam-Debatte“ erschöpft sich die Kenntnis der Mehrheit der Bevölkerung über den Islam und Muslime in einem Wissen vom Hörensagen. Erfahrungen aus eigener Anschauung, aus eigenem Erleben sind noch immer viel zu selten.

Wenn Muslime und gerade auch ihre Selbstorganisationen zu Recht die Islamfeindlichkeit in der deutschen Gesellschaft kritisieren, wenn sie von strukturellem Rassismus reden, den es leider tatsächlich gibt, wenn sie Chancengleichheit vermissen, weil es noch viel zu viele Vorurteile und Unwissen über den Islam gibt, dann muss man heute mehr denn je fragen dürfen: Was tut ihr denn, das über diese bedrückende Zustandsbeschreibung hinausgeht?

Ja, die beschriebenen islamfeindlichen Zustände sind eine Realität. Und Muslime sind nicht „selbst schuld“, dass sie immer häufiger auf Ablehnung stoßen. Eine solche Opfer-Täter-Umkehr im Angesicht realexistierender Ausgrenzung und Diskriminierung wäre unlauter. Aber ebenso falsch und vor allem unzureichend, ja geradezu verantwortungslos ist es, wenn sich Muslime in der Klage über gesellschaftliche Missstände häuslich einrichten.

Es reicht eben nicht, immer nur zu erklären, Extremisten dürften sich nicht auf den Islam berufen. Sie tun es dennoch. Es reicht nicht, zu erklären, Gewalttäter seien keine aufrichtigen Muslime. Sie halten sich dennoch für welche. Es reicht nicht, zu erklären, man lehne jede Form der Gewaltverherrlichung und der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ab. Es gibt sie dennoch. Auch in den eigenen Reihen.

Natürlich sind Muslime in überwältigender Mehrheit dieser Gesellschaft gegenüber nicht feindselig eingestellt. Sie befürworten keine Gewalt im Namen des Islam. Aber warum wissen viele Menschen in dieser Gesellschaft das nicht? Kann es sein, dass Pressemitteilungen nicht ausreichen, um die wahre Haltung von Muslimen glaubhaft der breiten Öffentlichkeit zu vermitteln?

Warum wissen viele Menschen in unserer Gesellschaft nicht, dass Muslime gerade aus einer religiösen Haltung heraus Gewalt im Namen ihrer Religion entschieden ablehnen?

Die Antwort auf diese Frage müssen allen voran wir Muslime geben. Sicher gibt es gesellschaftliche Kräfte, die auch eine pauschale Dämonisierung von Muslimen oder des Islam befördern. Auf deren Gebaren haben Muslime keinen Einfluss. Auf ihr eigenes Verhalten aber schon.

Zustände ändern sich nicht, nur weil man sich über sie beklagt. Als Muslime müssen wir Wege und Möglichkeiten finden, diese Zustände durch unsere eigene Initiative, durch unser eigenes Engagement zu verändern. Wir müssen es erreichen, dass jeder, der einen extremistischen Anschlag in den Nachrichtensendungen sieht, ganz sicher weiß, dass es sich um verirrte, gestörte, menschenverachtende Extremisten handelt und dass der muslimische Nachbar gegenüber, die Moscheegemeinde in der Stadt, diese Gewalt ablehnen.

Haben wir Muslime genug dafür getan, dass diese Erkenntnis zu einer Selbstverständlichkeit, zu einer breiten Gewissheit wird?

Wenn wir diesen Zustand erreichen wollen, müssen wir mit einer selbstkritischen Betrachtung beginnen. Eine Sprache der Ablehnung, der Ausgrenzung anderer Menschen ist nicht dazu geeignet, der hier beschriebenen Verantwortung gerecht zu werden. Wer die Gesellschaft, in der er lebt, ablehnt, andere Menschen aufgrund ihrer Lebensführung oder ihres Glaubens oder ihrer Herkunft ausgrenzt und schmäht, ist kein glaubwürdiger Ankläger selbst erlittener Ausgrenzung.

Wer eine Ablehnung dieser Gesellschaft in den eigenen Reihen duldet, womöglich diese Ablehnung teilt oder toleriert, wirkt nicht glaubhaft, wenn er Gewalt gegen eben diese Gesellschaft verurteilt.

Wer dieser Gesellschaft fremd bleibt oder gar fremd bleiben will, darf sich nicht wundern, warum er bei anderen statt Verständnis und Solidarität immer nur Befremden weckt.